Weiß-blau-goldener EM-Feiertag
Es spricht nicht unbedingt für die Kreativität des Autors, wenn er ständig mit dem Wetter einleitet. Aber es war schon auffällig, dass sich der Münchner Himmel pünktlich zur ersten deutschen Goldmedaille aufhellte. Um 21.20 Uhr erklang erstmals bei diesen 18. Europameisterschaften die deutsche Nationalhymne. Dafür verantwortlich zeichnete ein Mann, der sich vor drei Jahren erstmals einen Startblock einstellte.
Eine ergriffene Grit Breuer (Foto: Kiefner)
Die Geschichte des Ingo Schultz ist schon oft geschrieben worden. Nach seinem ersten Europameistertitel muss ein weiteres Kapitel hinzugefügt werden. Eines, das von Mut, der Stärke und dem erfrischenden Selbstbewußtsein des Norddeutschen erzählt. Bei der lautstark begrüßten Vorstellung grinste er verschmitzt, schenkte seiner Freundin Antje Buschschulte noch einen liebevollen Blick und machte sich mit dem Krachen des Startschusses auf, seine Mission zu erfüllen. 45,15 Sekunden später erreichte der Jubel der 48.500 Zuschauer eine Höhe, die wohl selbst ein Comeback Franz Beckenbauers im Bayern-Trikot nicht übertreffen würde. „Das Publikum war so grandios, es hat mich über die 400 Meter getragen“, so der Oberleutnant Schultz Minuten danach noch ganz ergriffen.Plackerei wird belohnt
Ergriffen trifft wohl auch den Gemütszustand seiner Viertelmeiler-Kollegin Grit Breuer. „Noch vor fünf Wochen wollte ich gar nicht in München starten“, schildert die Magdeburgerin ihre Verfassung vor den deutschen Meisterschaften in Wattenscheid. Eine hartnäckige Achillessehnenentzündung verhinderte planmäßiges Sprinttraining der Titelverteidigerin. Doch Breuer rackerte auf dem Ergometer, schuftete im Kraftraum und schwamm Bahn um Bahn im Magdeburger Freibad. Die Plackerei hat sich gelohnt – Grit Breuer musste nur die starke Russin Olesya Zykina ziehen lassen und sicherte sich in ihrer neuen persönlichen Jahresbestzeit von 50,70 Sekunden die verdiente Silbermedaille. Bronze holte sich die Britin Lee McConnell (51,02 sec). Die zweite deutsche Starterin Brigit Rockmeier belegte den tollen achten Rang.
In Sachsen sind die Sommerferien vorbei. Eigentlich müsste Heike Meissner in diesen Tagen vor ihrer Grundschulklasse stehen und Unterricht geben. Doch um bei der EM mitmachen zu können, wurde sie freigestellt. Wenn sie am Dienstag in ihre Schule nach Wilstruff zurückkehrt, bringt sie ihren Schülern eine Silbermedaille mit. „Meine Kollegen haben gesagt, komm ja nicht ohne Medaille heim“, erklärte die Dresdnerin, warum sie auf der Zielgerade noch einmal alles aufbot, um an der Polin Anna Olichwierczuk vorbei zu ziehen. Ionela Tirlea passierte knapp eine Sekunde früher die Ziellinie und holte sich ihren ersten internationalen Titel.
Echte Eisenmänner
Wenn die Könige der Leichtathleten auf ihre Ehrenrunde gehen, gehört ihnen das Rund ganz allein. Nach zwei Tagen voller Bestleistungen und Enttäuschungen, Blessuren und Endorphinschüben hatten die Eisenmänner zwar kaum noch Puste für weitere 400 Meter, aber die Fans entließen ihre Lieblinge nicht ohne sie gebührend zu feiern. Der Tscheche Roman Sebrle bewies davor seine Ausnahmestellung. Nur um 11 Punkte scheiterte der Weltrekordhalter am Meisterschaftsrekord des Briten Daley Thompson. Mit 8.800 Punkten lag der Tscheche 362 Zähler vor Olympiasieger Erki Nool.
Zwei weitere Sieger kamen aus Deutschland, obwohl ihnen so mancher Punkt zu den Medaillenrängen fehlte. Noch am Sonntag musste Mike Maczey einen Gesundheitsnachweis erbringen, vier Tage später erlebte München den Norddeutschen im Zehnkampf-Hoch. 8.158 Punkte bedeuteten Rang sechs – der 1.500-Meter-Lauf „hätte allerdings keine 30 Meter länger sein dürfen, sonst hätte ich es nicht geschafft“, wie er danach zugab. Als echter Zehnkämpfer erwies sich sein Kollege Sebastian Knabe. Der Hallenser lag lange auf Bestleistungskurs, bis er im Stabhochsprung „platzte“. Drei Fehlversuche über seine Anfangshöhe von 4,20 Meter stürzten ihn in eine tiefe Depression, die er allerdings durch unbändigem Kampfgeist schnell wieder vergessen ließ. Bestleistung im Speerwurf und ein beherzter 1.500-Meter-Lauf erfüllten den Wunsch des 24-Jährigen, „unbedingt die Ehrenrunde in einem vollen Stadion mitmachen“ zu dürfen.
Aus eins mach zwei mach eins
Zwei vermeintliche Europameister durften als erste das trockene Bad vor der Menge genießen. Der Franzose Mehdi Baala und der Spanier Reyes Estevez absolvierten die Ehrenrunde gemeinsam, teilten sich aber letztlich nur die Zeit von 3:45,25 Minuten. Die Goldmedaille durfte sich nach vielem Hin und Her nur Baala umhängen lassen, Estevez fehlten lediglich acht Tausendstel einer Sekunde zur gemeinsamen Medaille.
Eine geteilte Gold-Medaille hätten sich auch die beiden Schweden Staffan Strand und Stefan Holm gewünscht. Der Russe Jaroslaw Rybakov meisterte als einziger 2,31 Meter und verwies die Skandinavier auf die Plätze. Eine Ehrenrunde drehten sie trotzdem und zwar zur Feier des neuen Europameisters im Dreisprung, Christian Olsson. Dessen Sieg war nicht unbedingt eine Überraschung. Der zweite Platz des Titelverteidigers Charles Friedek dagegen schon. Mit 17,33 Metern verwies er den Briten Jonathan Edwards auf den Bronzerang und erklärte danach auch warum: „Für mich ging es in diesem verrückten Wettkampf vor allem um Selbstbestätigung.“ Sowohl das Hoch- als auch das Dreisprungfinale konnte allerdings die durchaus hohen Erwartungen nicht erfüllen.
Steffi Nerius wackeln die Knie – Silber holt sie dennoch
Parallel zu den verhinderten Sprungwundern holte Steffi Nerius die fünfte deutsche Medaille des Tages. Nur die Griechin Mirela Manjani warf weiter als die Leverkusenerin. Und Nerius wusste auch warum: „Um Mirela (Manjani) zu gefährden, hätte bei einem meiner Würfe alles perfekt sein müssen. Wegen der wahnsinnigen Atmosphäre hier sind meine Knie aber viel zu weich gewesen und wenn ich nichts aus den Beinen tun kann, dann gibt es auch keinen guten Wurf. Es war schwer, vom Genießen auf Wettkampf umzuschalten.“ Grundsätzlich war sie jedoch überrascht gewesen, dass mit 64,09 Metern der Silberrang herausgekommen ist. „Aber da fragt morgen keiner nach. Was zählt ist die Medaille.“ Und dann stellte sie fest, dass es eben doch Gerechtigkeit im Leben gibt: „Irgendwann bekommt jeder, was er verdient.“ Das volle Olympiastadion verdiente fünf deutsche Medaillen bei wunderbaren Bedingungen.
Der leichte Gang eines Polen ließ dagegen – rein sportlich gesehen – alles, was noch folgen sollte im Regen stehen. Robert Korzeniowski absolvierte die 50-Kilometer-Tortur so schnell wie noch kein anderer „Hüftwackler“ zuvor. „Es war wirklich mein Tag“, jubelte der Pole nach seiner Weltbestleistung von 3:36:39 Stunden. An seiner sagenhaften Vorstellung lag es sicher nicht, dass die Sonne erst am Nachmittag den Münchner Himmel erhellte.