Muriel Hurtis hat heute Heimvorteil
Der erste Trumpf hat nicht gestochen. Christine Arron, eine der großen Hoffnungen im Gastgeberland, blieb im 100-Meter-Finale ohne Medaille. "Reine Christine", die Sprint-Königin, landete "nur" auf Platz sechs. Die Franzosen ziehen heute ihr zweites Ass aus dem Ärmel: Muriel Hurtis, die offizielle WM-Botschafterin, trägt die Hoffnungen der "Grande Nation"! Wenn heute die Vorläufe und die Zwischenläufe über 200 Meter gestartet werden, genießt sie Heimvorteil. Mit einem ohrenbetäubenden Lärm werden ihr Abertausende von Zuschauern einen rauschenden Empfang bereiten.
Schon beim Golden League Meeting im Stade de France lief es gut für Muriel Hurties. (Foto: Chai)
Die flotte Französin, die bei 1,80 Meter Körperlänge und 68 Kilo Gewicht über ideale Maße verfügt, freut sich auf ihren Auftritt in heimischer Umgebung. Sie wohnt noch bei ihren Eltern in Bobigny, wo sie am Gymnasium "Louise-Michel" ihr Abi gemacht hat. Bobigny ist eine Stadt, die zum Departement 93 von Seine-Saint-Denis gehört. Ihr Autokennzeichen hat also die 93 als letzte zwei Zahlen. "Ich hab's zwar nicht weit bis zum Stadion", erzählte sie, "doch ich bin wie alle anderen auch im Athletendorf." Ihr letzter Auftritt im "Stade de France" liegt siebeneinhalb Wochen zurück, als sie beim Golden League-Meeting "Gaz de France" in 22,62 Sekunden Dritte wurde.
Zweite bei der Sportlerwahl
Muriel Hurtis ist momentan so populär wie nie zuvor. Hinter Stéphane Diagana, dem Europameister über 400 Meter Hürden, belegte sie im Winter den zweiten Platz bei der Wahl zum Leichtathleten des Jahres 2002. "Darauf bin ich sehr stolz", kommentierte Hurtis ihr Abschneiden, "dieses Ergebnis ist für mich Motivation und Verpflichtung zugleich." Sie weiß, dass die Erwartungen bei der WM in St. Denis vor den Toren von Paris ins Unermessliche schießen werden. "Je näher die WM rückte, um so größer wurden die Erwartungen der Öffentlichkeit", sagte sie, "damit muss ich leben." Ihr blieb in den vergangenen Wochen kaum Zeit zum Luft holen.
In bewährter Kooperation mit Guy Ontanon nahm sie die Saisonvorbereitungen in Angriff. "Aller Anfang ist schwer", stöhnte Muriel Hurtis nach den ersten Einheiten Anfang November in Nogent-sur-Oise, nördlich von Paris gelegen, "Guy hatte mir prophezeit, dass es kräftig zur Sache gehen würde." Ontanon, der auch Christine Arron zu seinen Schützlingen zählt, hatte ihr ein strammes Pensum aufgebürdet.
Vergleiche mit Pérec mag Hurties nicht
Das Glamour-Girl gilt in der Heimat als größtes Sprinttalent seit den glorreichen Zeiten von Marie-José Pérec, die während der WM fleißig ihre Kolumnen für "L'Equipe", die große täglich erscheinende, französische Sportzeitung, schreibt. Muriel Hurtis mag die ständigen Quervergleiche mit der Diva nicht mehr hören: "Sie hat ihren Weg gemacht, sehr erfolgreich sogar, und ich gehe meinen." Basta.
Die Karriere der Muriel Hurtis ist bislang steil bergauf verlaufen. Auf der 200-Meter-Distanz zählt sie zur absoluten Spitzenklasse! 1997 gewann sie Silber bei der Junioren-EM, 1998 Gold bei der Junioren-WM und 1999 Silber bei der U 23-EM. 2000 wurde Hurtis, deren Eltern wie Pérec aus Guadeloupe stammen, Hallen-Europameisterin, 2002 Europameisterin in der Halle sowie im Freien und 2003 Zweite der Hallen-Weltmeisterschaften.
Der nationale Uralt-Rekord ist drinne
Sie zu schlagen, ist gar nicht so einfach. In Paris werden sie viele Fans lauthals anfeuern und nach vorn treiben! Die langen Beine sind nicht nur Blickfang, sondern sorgen auch für Hebelverhältnisse, die so Raum greifende Schritte produzieren, dass Muriel Hurtis im Sauseschritt über die Kunststoffbahn düst. Wie im Sommer in München, als sie in 22,43 Sekunden vor der Belgierin Kim Gevaert triumphierte.
Das war damals persönliche Bestzeit! In Lièvin, beim Hallen-Meeting 2001, lief sie 22,51 Sekunden. Ein Resultat, das angesichts der engen Kurven unterm Dach noch höher einzustufen ist. Den nationalen Uralt-Rekord (21,99 sec), den Marie-José Pérec bereits anno 1993 in Villeneuve d'Ascq aufgestellt hat, trauen ihr die Experten vorbehaltlos zu. "Den hat sie drauf", meinte beispielsweise Guy Ontanon, "in einem perfekten Rennen, wenn alles stimmt, trau ich ihr eine solche Zeit durchaus zu." Muriel Hurtis hält nichts von derlei Spekulationen. "Darüber denk ich nicht nach", grantelte sie, "wichtig ist für mich in erster Linie, dass ich möglichst dicht an die 22 Sekunden komme." Und vielleicht sogar darunter.
Halbe Sachen mag sie nicht
Ein solcher Coup ist ihr allemal zuzutrauen! Muriel Hurtis ist ein zielstrebiger Typ. Was sie macht, macht sie gründlich. Halbe Sachen sind ihr ein Greuel. Mit 24 Jahren st sie eine der heißen Medaillenkandidatinnen.
Bernard Birsinger, der Bürgermeister von Bobigny, hat bereits angekündigt, dass eine groß Delegation ins "Stade de France" pilgern wird, um die prominenteste Sportlerin seiner Stadt lautstark anzufeuern.