Wo fliegen die Hämmer im Winter?
Minusgrade, Neuschnee, eisiger Wind: Für Trainingseinheiten im Freien ist die derzeitige Wetterlage nicht gerade optimal. Läufer ziehen sich warm an und kämpfen sich durch die Winterlandschaft. Sprinter und Springer bereiten sich auf die Hallensaison vor. Doch was machen die Werfer? Im Besonderen: die Hammerwerfer? leichtathletik.de hat der Trainingsgruppe in Frankfurt einen Besuch abgestattet.
Eine Scheibe mit dem geschätzten Durchmesser einer Autofelge knallt auf die blauen Matten in der Leichtathletik-Halle in Frankfurt-Kalbach. „Tiefpunkt!“ mahnt eine Stimme aus dem rechten Viertel der Halle, das mit Netzen vollständig umschlossen ist. In der hintersten Ecke dieses abgetrennten Bereichs: Ein Wurfring, ebenfalls vollständig von Netzen umgeben. Hier also bringen sich einige der besten deutschen Hammerwerfer für den Sommer in Form!Die WM-Vierte Kathrin Klaas und Andrea Bunjes, zweimalige WM-Teilnehmerin sowie Elfte der Olympischen Spiele 2004, schleudern aus der Drehbewegung fünf Kilogramm schwere Wurfscheiben von sich. Eine Gruppe Jugendlicher - der hessische D-Kader - übt mit einem Besenstiel-ähnlichen Stock die komplexen Rotationsbewegungen. Dazwischen sitzt Michael Deyhle, DLV-Disziplintrainer Männer und Frauen, U23 männlich und weiblich sowie Hammerwurf-Trainer der LG Eintracht Frankfurt.
Tore sind immer geöffnet
Sieben Tage die Woche findet man ihn im Winter in dieser Halle, berichtet Michael Deyhle schmunzelnd und schüttelt ein wenig den Kopf, als könne er es selbst kaum glauben. Seine Athleten müssen durchschnittlich an fünf Tagen pro Woche für rund zehn Trainingseinheiten ran. Die Halle in Frankfurt-Kalbach steht ihnen jederzeit zur Verfügung. Wenn sie geschlossen ist, wird der Hausmeister angerufen, der macht auf.
Betty Heidler, deutsche Rekordhalterin und Vize-Weltmeisterin, schiebt die Netze beiseite und gesellt sich zu den D-Kader-Athleten. Die 26-Jährige war zuerst im Kraftraum, jetzt steht auch für sie „Scheiben wegwerfen“ auf dem Programm. Michael Deyhle hat alles bestens im Blick: „Frau Heidler, mehr auf links!“ korrigiert er ihren ersten Wurf, während der Hammer eines D-Kader-Athleten gegen die Eisenstangen der Wurfring-Umzäunung donnert.
Standortvorteil Wurfhaus
Wer jedoch glaubt, die Athleten müssten im Winter gänzlich auf weite Würfe verzichten, der irrt: Auf der Sportanlage in Frankfurt-Niederrad gibt es seit fünf Jahren ein Wurfhaus, das beheizt und zu einer Seite hin offen ist. „So etwas haben wir 1990 zum ersten Mal in Kienbaum gesehen“, berichtet Michael Deyhle. In dem Örtchen östlich von Berlin trainierten bis zur Wende die Werfer der ehemaligen DDR. Heute dienen die Einrichtungen dem Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) als Bundesleistungszentrum.
Zehn Jahre haben die Werfer in Frankfurt gekämpft, bis auch in der hessischen Metropole ein solches Wurfhaus errichtet wurde. Es ist das bisher einzige in den alten Bundesländern. Wo die Athleten früher wohl oder übel in der Kälte zitterten, finden sie jetzt optimale Bedingungen vor. Trainieren können sie in Niederrad in den Wintermonaten allerdings nur bis zum frühen Nachmittag. „Dann wird es zu dunkel und wir finden die Hämmer nicht mehr“, erklärt Kathrin Klaas.
Wettkämpfe Fehlanzeige
Im Wurfhaus werden auch die Hessischen Winterwurf-Meisterschaften ausgetragen. Ein Wettbewerb, an dem die drei besten deutschen Hammerwerferinnen gar nicht oder nur spaßeshalber teilnehmen. Für sie gibt es von Oktober bis Mai ganze zwei Wettkämpfe: Eine Veranstaltung in Südafrika, die zum festen Bestandteil des Trainingslagers in Pretoria gehört, sowie den Winterwurf-Europacup, der jedes Jahr im März stattfindet.
Sieben Monate ohne den direkten Vergleich mit der Konkurrenz – ist das nicht eine lange Durststrecke für die Athleten? „Nein, gar nicht“, meint Betty Heidler lachend. „Ehrlich gesagt mag ich diese Monate sogar ganz gerne. Im Sommer sind wir so viel unterwegs, von einem Wettkampf zum nächsten.“ Das strengt an. In Herbst und Winter kehren Alltag und Routine zurück.
Eintracht ohne Frankfurter
Betty Heidler kam 2001 aus Berlin nach Frankfurt zu Michael Deyhle. Im selben Jahr verschlug es Andrea Bunjes aus Ostfriesland nach Hessen, 2003 folgte die Westerwälderin Kathrin Klaas. Gabi Wolfahrt, zurzeit verletzte Sechste der U20-WM, stieß im Vorjahr aus Niedernhall dazu. Der letzte Neuzugang: Mareike Nannen, Deutsche Jugend-Vizemeisterin, die wie Andrea Bunjes beim SV Holtland das Hammerwerfen erlernte.
Stammt tatsächlich niemand aus der Gruppe ursprünglich aus der hessischen Großstadt? Kathrin Klaas überlegt kurz. Dann: „Nein, keine von uns – nur der Trainer.“ Seit nunmehr 30 Jahren betreut Michael Deyhle die Frankfurter Hammerwerfer. Und seit „20 oder 25 Jahren“ hat er das Amt des Bundes- bzw. Disziplintrainers inne. „So genau weiß ich das gar nicht“, sagt er. „Das ist mir auch egal.“
Konzept überzeugt
Einen Athleten von einem anderen Verein abwerben musste er noch nie: „Sie kommen hierher, weil ihnen das Konzept gefällt. Manchmal stellen wir dann natürlich fest, dass jemand doch nicht so gut in die Gruppe passt. Aber im Vorfeld zurückgewiesen habe ich einen Werfer auch noch nie.“
Als es Betty Heidler vor rund acht Jahren in ihrer alten Trainingsgruppe nicht mehr gefiel, kam sie selbst auf Michael Deyhle zu. „Sein Training kannte ich schon aus gemeinsamen Einheiten, und es gefiel mir sehr gut“, berichtet die freigestellte Bundespolizistin und Jurastudentin. Im Herzen werde sie immer Berlinerin bleiben, versichert sie mit leuchtenden Augen. Aber für den Sport wechselte sie in der zwölften Klasse die Schule und den Wohnort.
Weibliche Dominanz
Damals trainierten in Frankfurt neben der zweifachen Deutschen Meisterin Susanne Keil auch der 80-Meter-Werfer Holger Klose und Karsten Kobs, Weltmeister 1999 von Sevilla (Spanien). Heute haben die Damen nur im Sommer männliche Begleitung. Dann stößt der WM-Fünfte Sergej Litvinov, der im Winter von seinem Vater in Weißrussland betreut wird, zur Trainingsgruppe dazu.
„Das ist ein grundsätzliches Problem im deutschen Hammerwurf, nicht nur in Frankfurt: Es fehlt der männliche Nachwuchs“, bedauert Michael Deyhle. An der vorhandenen Betreuung kann es nicht liegen, das stellten die deutschen Werferinnen bei den Weltmeisterschaften in Berlin eindrucksvoll unter Beweis: Drei Starterinnen, ein deutscher Rekord und die Plätze zwei und vier lautete hier die Bilanz. Bis bei den Männern wieder ähnliche Erfolge einkehren, wird man wohl noch ein wenig warten müssen.