Yelena Isinbayeva - Wankelmütige Stabhoch-Zarin
Nach dem verpassten Olympiasieg im vergangenen Jahr stand die Karriere von Stabhochsprung-Weltrekordlerin Yelena Isinbayeva vor dem Aus. Doch die 31-Jährige kämpfte sich zurück und ließ das heimische Publikum bei der WM in Moskau (Russland) über Gold jubeln. Jetzt strotzt sie nur so vor Plänen: Nach einer Babypause will sie bei Olympia 2016 das verlorene Gold zurückholen.
Um zwei Uhr nachts hatte das Warten auf die Stabhochsprung-Zarin ein Ende. Knappe vier Stunden hatten Hunderte Fans vor dem Luzhniki-Stadion ausgeharrt, um einen Blick auf ihr Idol zu erhaschen. Geduldig schrieb Yelena Isinbayeva Autogramme und ließ sich mit ihren Fans fotografieren, viele davon mit aufgemalten russischen Fahnen auf den Wangen.Ihr, der 28-fachen Weltrekordlerin, der zweimaligen Olympiasiegerin und nun dreimaligen Weltmeisterin war es vorbehalten, die 14. Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Moskau zu krönen. Am Finalabend war die 31-Jährige wieder ganz in ihrem Element. Alle Augen der rund 50.000 Zuschauer (davon exakt 32.431 bezahlte Tickets) waren auf sie gerichtet.
Als Isinbayeva im ersten Versuch über 4,89 Meter sprang, gab es kein Halten mehr. Endlich hatte die Lautstärke im Stadion ein WM-würdiges Level erreicht, während die Stabhochspringerin in die Arme ihres Trainers Yevgeny Trofimov sprintete. „Das war mein Stadion, meine Zuschauer. Ich habe ihre ganze Energie gespürt, darum musste ich einfach gewinnen“, jubelte Isinbayeva.
Erst Kind, dann Olympiasieg?
Noch einmal will sie in diesem Jahr starten: beim Diamond League-Finale in Zürich (Schweiz; 29. August) – und dann eine Babypause einlegen. Ein Comeback bei Olympia 2016 in Rio (Brasilien) schließt sie allerdings nicht aus: „Neun Monate schwanger, neun Monate stillen – das macht anderthalb Jahre. Also kann ich in Rio dabei sein.“
Vor ihrem Triumph in Moskau hatte es lange Zeit nicht so ausgesehen, als könnte sie sich noch einmal auf der großen Sportbühne zurückmelden. Nach dem verpassten dritten Olympiasieg 2012 in London (Großbritannien) wuchsen in ihr die Zweifel, ob sie ihre Karriere fortsetzen solle. Den ganzen Winter lang trainierte sie nur sporadisch, die ersten Sprünge absolvierte sie erst wieder im März.
„Mein Trainer hat mich gefragt, ob ich es nicht mal wieder mit dem Springen versuchen wolle. Zuerst war ich dagegen. Aber dann hat es besser geklappt, als ich gedacht habe“, erzählte Isinbayeva.
Zweite Karriere mit Trofimov
Ohnehin war die Rückkehr im März 2011 nach knapp sechs Jahren zu Yevgeny Trofimov, der sie im Alter von 15 Jahren entdeckt hatte, der Startschuss zur zweiten Karriere der Weltrekordlerin. Mit Vitaliy Petrov – dem Erfolgscoach von Weltrekordler Sergey Bubka – hatte sie sich überworfen. Auf die Frage, ob der Riss zwischen ihr und Trofimov noch einmal geschlossen werden konnte, antwortet sie: „Nein, es wurde ein neues Zusammenspiel zwischen uns. Wir wollten uns nicht mehr an unangenehme Ding erinnern, sondern nur an die guten.“
Trofimov hätte ihr den Glauben an Siege zurückgegeben. „Er hat mir versprochen, wieder auf mein altes Niveau zu kommen, wenn ich genug Geduld habe“, sagte Isinbayeva. Der Stabhochsprung-Nestor sollte Recht behalten. Er schickte eine nervenstarke und perfekt austrainierte Yelena Isinbayeva ins Rennen um WM-Gold.
Selbst als sie den ersten Versuch über 4,65 Meter riss und ein Raunen durchs Stadion ging statt der erwartete (und zum Teil vom Band stammende) Applaus, blieb die Ausnahmespringerin ganz ruhig. „Der Stab war einfach zu weich. Das ist ein Indiz für die gute Form. Darum bin ich auch nicht gleich auf die nächste Höhe gegangen“, beschrieb sie den Beginn der Gold-Nacht.
Weltrekord-Versuch nur Nebensache
Diesen Abend im Luzhniki-Stadion, vielleicht ihr letzter vor heimischer Kulisse, kostete Yelena Isinbayeva noch einmal so richtig aus: 5,07 Meter ließ sie auflegen, nachdem der Titel sicher war. Weltrekord. Zwar scheiterte sie dreimal recht klar am Versuch, ihre Bestmarke aus dem Jahr 2009 in Zürich um einen Zentimeter zu toppen. Doch das war an diesem Abend ohnehin nur Nebensache.
„Heute ist Gold das Kostbarste. Der Weg vom Olympiasieg 2008 in Peking bis zur WM nach Moskau war so schwer. Ich hatte das Gefühl, dass alles bröckelt, alles zusammenfällt. Wenn die Olympischen Spiele 2012 in Moskau gewesen wären, wäre es vielleicht anders ausgegangen“, erinnerte sie sich in der Stunde des Triumphes an ihre Niederlage vergangenes Jahr in London, als sie „nur“ Bronze gewann.
Großverdienerin mit chinesischem Sponsor
Dass es mit dem Weltrekord-Bonus von 100.000 US-Dollar (für einen WM-Sieg gibt es 60.000 US-Dollar) nicht klappte, kann Isinbayeva locker verschmerzen. 1,5 Millionen US-Dollar überweist der chinesische Sportartikelkonzern Li Ning pro Jahr angeblich an die Russin. Der Fünf-Jahres-Kontrakt macht die 31-Jährige zur bestverdienenden Leichtathletin aller Zeiten.
Da kann die Konkurrenz um Längen nicht mithalten. Trotzdem profitieren die anderen Springerinnen vom Glanz der Russin. Ohne Isinbayeva wäre der Frauen-Stabhochsprung nicht das geworden, was er ist. „Man muss Yelena danken. Für alles, was sie aus unserem Sport gemacht hat. Der Frauen-Stabhochsprung ist durch sie eine der beliebtesten Leichtathletik-Disziplinen“, lobte Jennifer Suhr die Verdienste der Russin.
Die US-Amerikanerin hatte im Winter mit 5,02 Metern Isinbayeva als Hallen-Weltrekordlerin abgelöst und gewann in Moskau mit 4,82 Metern Silber vor der höhengleichen Yarisley Silva (Kuba). Silke Spiegelburg (TSV Bayer 04 Leverkusen; 4,75 m) blieb wie bei Hallen-WM, EM und Olympia im vergangenen Jahr nur der undankbare vierte Platz.
„Meine Karriere? Das ist Hollywood!“
Bis 4 Uhr morgens feierte Isinbayeva ihr furioses Comeback in den Moskauer Clubs und stand schon am Vormittag wieder den Medien Rede und Antwort. Auf die Frage, wie sie ihre Karriere mit wenigen Worten beschreiben würde, sagte sie: „Meine Karriere? Das ist Hollywood!“ Nichts möchte sie in ihrer Karriere missen, nicht die vielen Erfolgen, nicht die Rückschläge.
Nach dem Ende der Saison wird sie ihren Verlobten Artem heiraten. Vielleicht in Monaco oder in Moskau. Nur in ihrer Heimatstadt Wolgograd nicht. Danach wird Isinbayeva in die „Politik“ einsteigen. Sie wurde schon zur Bürgermeisterin des olympischen Dorfs bei den Winterspielen 2014 in Sotschi ernannt. „Da werde ich dann rumrennen wie ein schwangerer Pinguin“, flachste die Weltmeisterin bei der offiziellen Pressenkonferenz. Zuvor will sie sich weiter um ihre Fonds für Jugendsport kümmern und in Wolgograd ein Sportzentrum für Kinder aufbauen.
Kritik an Schwedinnen
Und auch während der WM positionierte sie sich politisch – zu den Protestaktionen der schwedischen Hochspringerin Emma Green Tregaro und ihrer Landsfrau, 200-Meter-Läuferin Moa Hjelmer, gegen das russische Anti-Homosexuellen-Gesetz. Beide waren mit in den Farben des Regenbogens lackierten Fingernägeln in die Qualifikationen an den Start gegangen. Der Regenbogen ist ein Symbol der Schwulen- und Lesben-Bewegung.
„Sport hat auch etwas mit Respekt vor dem anderen zu tun. Deshalb denke ich, dass es eine nette Geste ist“, sagte Green Tregaro der schwedischen Zeitung Aftonbladet. „Wenn wir erlauben, all dieses Zeug auf den Straßen zu tun, müssen wir Angst um unsere Nation haben, weil wir selbst Normalbürger sind“, konterte Isinbayeva. „Wir hatten diese Probleme in der Geschichte nicht, und wir wollen sie in der Zukunft nicht haben. Bei uns leben Männer mit Frauen, Frauen mit Männern.“
Später ruderte sie zurück: „Englisch ist nicht meine Muttersprache und ich denke, ich bin da vielleicht missverstanden worden mit dem, was ich gesagt habe.“ Sie habe sagen wollen, „dass die Menschen Gesetze in anderen Ländern respektieren sollten, vor allem wenn sie Gäste sind“. Sie wiederum respektiere die Ansichten anderer Athleten. „Mit größtem Nachdruck“ sprach sie sich nun gegen Diskriminierung von Homosexuellen aus.
Ein Geheimnis bleibt
Die Ausnahmespringerin ist um keine Antwort verlegen. Nur bei einer Frage wich sie aus. „Was erzählen Sie eigentlich ihrem Stab vor dem Anlauf?“, fragte ein russischer Journalist. Das Einreden auf ihr Sportgerät ist seit vielen Jahren der charakteristische Konzentrationsprozess der Russin.
„Es ist zu früh, solche Geheimnisse zu verraten. Wenn ich irgendwann meine Spikes an den Nagel hänge, wird es vielleicht so weit sein“, sagte Yelena Isinbayeva. Wann dieser Zeitpunkt gekommen ist, entscheidet nur sie. Vielleicht erst nach ihrem dritten Olympiagold 2016 in Rio.
Quelle: Leichtathletik - Ihre Fachzeitschrift