Stabhochsprung: Rekordjagd in der weiblichen Jugend
Von Herbert Czingon
In der Hallensaison 2010 zeigte die weibliche Jugend im Stabhochsprung einen erstaunlichen Leistungssprung: Die besten drei Athletinnen des DLV belegten die Plätze eins bis drei der aktuellen U20-Hallenweltbestenliste! Hervorzuheben ist zuerst Joana Kraft, die als Viertplatzierte bei den Deutschen Hallenmeisterschaften in Karlsruhe mit neuem deutschen Jugend-Hallenrekord von 4,45 Meter nur knapp unter dem offiziellen Juniorenweltrekord der Russin Valeria Volik (4,50 Meter) blieb. Eine Woche zuvor war Caroline Hasse mit 4,40 Metern viel umjubelte Deutsche Jugend-Hallenmeisterin geworden, hatte dort noch viel Luft zwischen sich und der Latte, war aber eine Woche später bei den Meisterschaften in Karlsruhe nicht mehr ganz so leistungs- und erfolgshungrig.
Vergleich der Techniken von Joana Kraft und Carolin Hasse
Die Bildreihen zeigen die Sprünge von Joana Kraft (4,45 Meter) und Caroline Hasse (4,35 Meter) bei den Deutschen Hallenmeisterschaften. Dass dazu zwei nicht ganz übereinstimmende Perspektiven verwendet werden, erschwert den Vergleich zwar einerseits, ermöglicht aber andererseits auch interessante Einblicke aus den jeweils unterschiedlichen Perspektiven. Beide Athletinnen unterscheiden sich in ihrer Technik deutlich. Während sich Joana Kraft im Anlauf, Einstich und Absprung bereits auf einem sehr guten Stand präsentiert und in den oberen Sprungphasen eher eine durchschnittliche technische Qualität zeigt, verhält es sich bei Caroline Hasse genau umgekehrt.


Einstich und Absprung (Bilder 1 bis 8)
Joana Kraft zeigt einen hervorragenden frühen, hohen Einstich (s. Bilder 2 bis 7), der durch die enge Griffhaltung begünstigt wird. Sie vollzieht bei den drei letzten Bodenkontakten eine leichte Rhythmisierung des Absprungs mit Verkürzung des letzten Schritts um 5 bis 10 Zentimeter. Der Aufsatz des Sprungfußes erfolgt auf dem Ballen. Mit einer Absprungstelle von 3,65 Meter zeigt sie einen annähernd „freien Absprung“ in eine vorbildliche C-Position: Der Kopf befindet sich nach der Aufnahme durch den Stab unter der unteren Hand, ihr linker Arm könnte aber noch aktiver nach oben arbeiten, auch scheint das Handgelenk nicht ganz fest zu sein und etwas am Stab „vorbeizurutschen“ (Bild 8).
Auch Caroline Hasse zeigt einen frühen, hohen Einstich, der aber wegen des sehr breiten Griffs fast eine Streckung des unteren (linken) Arms erfordert (Bild 2). Der letzte Schritt ist geringfügig verlängert, der aktive Fußaufsatz erfolgt flachsohlig. Auch bei ihr ist ein sehr guter Schwungbeineinsatz mit Stabilisierung des Schwungbeinknies zu sehen. Jedoch unterläuft sie die Absprungstelle deutlich und lässt die Hüfte nach dem Absprung weit nach vorne driften. Es gelingt ihr nicht, die Bauchmuskulatur rechtzeitig anzuspannen, sodass die Verbindung zwischen Brustkorb und Hüfte verloren geht.
Aus der C- in die I-Position (Bilder 8 bis 15)
Joana Kraft hat am Ende des Einstich-Absprungkomplexes eine sehr gute C-Position aus dem Lehrbuch eines modernen Technikmodells erreicht (Bild 8). Unmittelbar danach (Bilder 9 bis 11) bleiben die Arme jedoch eindeutig zu passiv, vermutlich wegen fehlender Kraft. Sie kompensiert dies durch eine starke Beugung in Knie- und Hüftgelenk mit „nachgeschleppten“ Unterschenkeln (Bild 11). Die Schulter und das Becken driften weit nach vorne, die Schulterachse wird nicht durch eine geeignete Armaktion vom Stab nach hinten-unten weg bewegt. Dies hat zur Folge, dass der Stab während der I-Position nicht optimal in Sprungrichtung bewegt wird, sondern sich zur Seite wegdreht.
Caroline Hasse beginnt ihre Aufrollbewegung durch eine Kombination der „Sprungbeinpeitsche“ mit einem Armzug nach vorne (Bilder 8 bis 12). Dadurch kann sie die Schulterachse weit von den Händen nach hinten-unten entfernen und die Drehachse in die Schulterachse verlagern. Dabei hilft ihr die relativ niedrige Griffhöhe: Ihr gelingt ein sehr schnelles, sehr weites Aufrollen mit sofortigem „Durchstechen“ in die I-Position. Sobald die Hüfte die obere Griffhand passiert, wird die Körperspannung jedoch aufgelöst. Da sich der Körperschwerpunkt zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich oberhalb der oberen Griffhand befindet, resultiert daraus keine negative Konsequenz.


Zugumstütz, Abstoß und Lattenüberquerung (Bilder 14 bis 20)
Joana Kraft ist in dieser Phase sehr stabil und zeigt eine gute Körperspannung mit sehr guter Aktivität der Arme, sodass sie den Vertikalimpuls der Stabstreckung nutzen und weiterführen kann. Leider hat sie wegen ihres hohen Griffes – sie wird in dieser Phase recht langsam – und der geringen Zugbewegung der Arme ab der C-Position im Bereich der Maximalbiegung ihre höchste Aufrollposition relativ zur Stabbiegung und -streckung recht spät erreicht und wird vom Stab beinah wieder „abgeschüttelt“: Die I-Position wird fast zum „Fähnchen im Wind“ mit deutlicher Neigung zur Latte (Bilder 14 bis 16). Trotzdem gelingt ihr wegen ihrer guten Körperspannung und einer effektiven Zugumstützbewegung der Arme dabei eine beachtliche Überhöhung der oberen Griffhand zur Latte.
Caroline Hasse muss durch den relativ niedrigen Griff nicht so viel Energie an den Stab übergeben, bleibt dadurch selbst in ihrer Arbeit am Stab sehr schnell und kann trotz fehlender Körperspannung mit deutlich angezogenen Knien in der I-Position den Streckimpuls des Stabes nutzen und kommt gut „von oben“ auf den Stab (Bild 17). Sie kann sich dies leisten, weil sie nicht vom Stab halb „abgeschüttelt“ wird. Allerdings wird sie bei diesem Sprung sehr weit vom Stab weg nach hinten geworfen, sodass sie den eigentlichen Abstoß verpasst und in der Folge fast auf die Latte fällt.
Der deutsche Jugend-Hallen-Rekord von Joana Kraft
Caroline Hasse bei ihrem ersten DM-Auftritt
Die ausführliche Analyse der beiden Sprünge sowie eine Auflistung biomechanischer Kennziffern und Zubringerwerte finden Sie in Ausgabe 5/2010 der Zeitschrift leichtathletiktraining, die Sie über den Philippka-Sportverlag erwerben können.