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Alexandra Burghardts Befreiungsschlag

Alexandra Burghardt krönte sich am vergangenen Wochenende zur Sprint-Königin von Braunschweig. Sie gewann die Titel über 100 und 200 Meter, stellte eine Bestleistung auf und qualifizierte sich damit direkt für einen Einzelstart bei den Olympischen Spielen. Auf diesen Befreiungsschlag hatte sie sechs Jahre lang gewartet und auf dem Weg dorthin vieles anders gemacht.
Lea Saur

Die Befreiung dauerte 11,14 Sekunden. Dann war Alexandra Burghardt (LG Gendorf Wacker Burghausen) Deutsche Meisterin über 100 Meter. In neuer persönlicher Bestzeit, die einen Einzelstart bei den Olympischen Spielen in Tokio wert ist. 11,14 Sekunden. So schnell kann’s gehen, könnte man meinen.

„So schnell kann’s gehen“, dauerte in diesem Fall sechs Jahre. So lange musste die Bayerin auf neue Bestzeiten warten und auf einen internationalen Einzelstart. Sechs Jahre sind eine lange Zeit, besonders dann, wenn man bereits internationale Erfolge gefeiert hat: U20-EM-Gold 2011 in Tallinn (Estland) mit der 4x100-Meter Staffel, U20-WM-Silber mit der Staffel 2012 in Barcelona (Spanien), 2015 und 2016 DM-Gold mit der Staffel und 2017 Sieg bei den World Relays auf den Bahamas. Bei Einzelstarts feierte sie 2015 als U23-EM-Zweite hinter Rebekka Haase und 2016 als Deutsche U23-Meisterin ihre größten Erfolge. Und dann folgte: lange nichts.

„Rio war schlimm“

Ihren Bestzeiten von 2015 rannte Alexandra Burghardt jahrelang hinterher, in der Staffel war sie ganz klar Nummer fünf. „Besonders Rio hat sich bei mir eingebrannt“, erzählt die Bayerin von ihrer Teilnahme an den Olympischen Spielen 2016. „Es heißt ja oft, bei den Olympischen Spielen dabei zu sein ist alles, aber für mich war das schlimm. Ich war zwar da, aber ich wusste, dass es nicht das ist, was ich will. Ich habe die Bahn nicht mal zum Training betreten.“

Bundestrainer Ronald Stein war ehrlich mit der Athletin. „Er hat ganz klar zu mir gesagt, dass ich eine gute Wechslerin bin. Aber dass ich 11,25 Sekunden laufen muss, um in der Staffel zu sein. Und diese Zeit bin ich eben nicht gelaufen“, berichtet sie.

In der Trainingsgruppe von Valerij Bauer bei der MTG Mannheim fühlte sie sich sehr gut aufgehoben, merkte aber, dass sich ohne Veränderung im Training auch nicht das Ergebnis verändern konnte. „Es war eine tolle Zeit in Mannheim, Valerij ist ein toller Trainer, auch menschlich. Aber ich brauchte was Neues.“

Veränderung 1: Wohnort und Verein

Ende 2017 packte Alexandra Burghardt ihre Sachen und ging zurück in die Heimat. „Ich weiß noch, wie stolz ich als Kind immer war, wenn ich in der Schule ab und zu Julia Viellehner gesehen habe“, erzählt sie über die international erfolgreiche Triathletin aus ihrer Region – die im Jahr 2017 auf tragische Weise in einem Verkehrsunfall beim Radtraining ums Leben kam. „Die Kinder in meinem Verein kannten mich gar nicht. Ich wollte aber auch ein Vorbild für sie sein.“

Zum Bürgermeister der Stadt Töging, in der sie aufgewachsen ist, hat die inzwischen in Altötting lebende Bayerin einen guten Draht. „Ich habe zum ihm gesagt, dass ich gerne unsere Region repräsentieren möchte.“ Als Starterin der LG Gendorf Wacker Burghausen kann Alexandra Burghardt nun auch in der Heimat unter professionellen Bedingungen trainieren – und einmal die Woche Kindertraining geben.

Veränderung 2: Trainer

„Eine ganze Zeit lang habe ich dann verschiedene Trainingskonzepte ausprobiert. Ich wusste zum einen nicht genau, was ich brauche. Zum anderen ist es mir schwergefallen, die Planung abzugeben. Im Sommer 2019 habe ich mich sogar eine Zeit lang selbst trainiert. Das war auch ein Schmarrn, da war viel zu viel Unruhe drin“, blickt sie zurück.

Sie fing an, mit einem Mentalcoach zu arbeiten. Nach den Deutschen Meisterschaften 2019 wendete sie sich außerdem an Patrick Saile, der damals Stützpunkttraining in München gab. „Ich bin ein paar Mal nach München gefahren und es hat gut gepasst.“ Nur: Die Wehwehchen und der instabile Körper, die sie jahrelang ausbremsten, waren noch da.

Im Winter 2019 erreichte die Verletzungsphase ihren Höhepunkt: „Ich hatte nie ganz schlimme Verletzungen, immer nur verschiedene kleinere Sachen, beispielsweise Probleme mit der Patellasehne. Aber in dem Winter hatte ich auf einmal so krasse Rückenschmerzen, dass ich nicht mal mehr meine Socken anziehen konnte.“ Es war klar, dass sie an ihrer Physis arbeiten musste, bevor das Training mit Patrick Saile richtig greifen konnte.

Veränderung 3: Bewegungstherapie und Physis

Also probierte sie wieder etwas Neues aus und ging in die CrossFit-Box in ihrem Ort, zu Coach und Physiotherapeut Dominic Bilic. „Nach zwei Einheiten Bewegungstherapie mit ihm konnte ich mich wieder bücken, zwei Wochen später wieder laufen, dann wieder sprinten.“ In der Hallensaison lief sie 7,50er Zeiten. „Kein Wahnsinn, aber immerhin ging das wieder.“

Ab dem Frühjahr 2020 absolvierte sie ihr komplettes Krafttraining mit Bilic. Das Team achtete dabei auf einen ganzheitlichen Ansatz. Die anschließenden Trainingslager verliefen okay, aber nicht perfekt. Und dann kam Corona. „Wir saßen im Trainingslager auf Teneriffa fest. Am letzten Tag vor der Heimreise habe ich einen richtig schlimmen Husten bekommen und der blieb vier Wochen lang. Ich hatte kein Fieber, konnte Waldläufe machen, aber war insgesamt einfach schlapp. Ich war oft den Tränen nahe, weil ich dachte: Mann, dieses Jahr ist Olympia und ich habe Husten!‘“

Dann kam der 23. März 2020, der Tag, an dem die Olympischen Spiele 2020 abgesagt wurden. Und Alexandra Burghardt dachte: „Geil, etwas Besseres kann mir gerade nicht passieren.“

Veränderung 4: Zeit nehmen

„Wenn Olympia stattgefunden hätte, hätte ich mir wieder nicht die Zeit genommen, mich richtig auszukurieren. Es tat immer irgendwas weh, ich konnte keine Beinpresse machen und nichts“, sieht sie heute, wie notwendig es für sie war, die gewonnene Zeit endlich richtig für sich zu nutzen und komplett neu anzufangen. Erstmals setzten sich alle Beteiligten an ihrem Trainingskonzept an einen Tisch. Mit Patrick Saile vereinbarte sie: „Ich laufe keinen Schritt mehr, bis alle Schmerzen weg sind. Wenn ich bereit bin, komme ich wieder.“ Heute noch ist sie froh, dass der Trainer ihr so vertraute und ihr diese Freiheiten gab.

Alexandra Burghardt startete mit einer Blutegeltherapie. „Die Blutegel haben mir ein anderes Gefühl im Knie gegeben, in dem ich auch schon jahrelang Schmerzen hatte. Zum ersten Mal fühlte es sich wieder anders an.“ Die Schmerzen wurden besser. Zwei Wochen nach der Therapie startete sie mit regelmäßigeren Trainingseinheiten in der CrossFit-Box von Dominik Bilic. Das Team baute behutsam ihren gesamten Körper auf. „Ich habe zwei bis drei Mal in der Woche dort trainiert. Die Einheiten haben manchmal nur 30 Minuten gedauert. Aber Dominic hatte null Erbarmen mit mir. Ich bin dort oft an meine Grenzen gekommen.“

Auch hier hatte die Sprinterin ein Aha-Erlebnis: „Einmal war ich so fertig, dass ich gesagt habe, dass ich das Training nicht schaffe oder dass ich es mit weniger Gewicht machen muss. Dominic hat nur gesagt ´okay, dann ist das Training beendet‘ und ist gegangen. Das Training wurde abgebrochen. Danach war ich mega sauer auf mich. Seither habe ich jede Einheit durchgezogen.“

Veränderung 5: Laufen neu lernen

Im September 2020 fuhr Alexandra Burghardt mit ihrem Freund in den Urlaub. Sie machten einen Roadtrip von Zürich (Schweiz) nach Nizza (Frankreich). Bei Savona (Italien) hatte die Sprinterin zum ersten Mal wieder seit fünf Monaten das Gefühl, es probieren zu wollen. Die beiden suchten eine Sportanlage in der Nähe auf und Alexandra Burghardt machte ihr ersten Laufschritte.

„Ab dann habe ich das Laufen neu gelernt. Jeder Schritt war sehr bewusst, auch das Einlaufen. Es war genau das, was Patrick wollte und wie er sagte, dass es sich anfühlen sollte.“ Die Ankündigung ihres Trainers, dass er Ende September in den Trainerstab des Nationalteams der Schweiz wechseln würde, bedeuteten von da an Fahrten nach Zürich alle ein bis zwei Wochen für drei bis vier Tage – ein zusätzlicher Aufwand für seine Athletin. Aber inzwischen war Alexandra Burghardt voll auf Kurs: „Für mich war das keine Frage, dass ich diesen Weg weiter mit ihm gehen wollte.“

Mit Patrick Saile arbeitete sie viel an technischen Feinheiten, von denen sie vorher noch nie gehört hatte. „Ich habe gemerkt, dass ich mich tatsächlich anders bewege.“ Zusammen mit ihrem Fitness-Trainer Dominik Bilic lernte sie das ungeliebte Umsetzen neu, stellte im April 2021 sogar eine neue Bestleistung von 100 Kilogramm auf.

Langsam kommt alles zusammen

„Im Trainingslager in Belek in der Türkei dieses Frühjahr habe ich dann zum ersten Mal zwei Wochen lang so trainiert, wie es auf dem Plan stand. Ich war zwar müde und fertig, aber ich konnte es durchziehen. Ich bin selbst ein bisschen erschrocken, weil ich dadurch im Training ganz andere Leistungen erzielen konnte.“

Auch im Mentaltraining ging es immer weniger um die grundlegenden Dinge wie Selbstvertrauen und Umgang mit Zweifeln, sondern um wettkampfspezifische Situationen. „Ich habe oft auf den ersten 60 Metern geführt, wurde dann aber noch eingeholt. Auch das ist ein Thema, mit dem ich mich auseinandersetze.“ Der nächste Schritt war auch hier gemacht.

In die Freiluft-Saison 2021 stieg die Athletin der LG Gendorf Wacker Burghausen mit Bestzeiten ein: In ihrem alten Trainingsstadion in Mannheim lief sie 11,29 Sekunden und 23,00 Sekunden. Eine Woche später steigerte sie sich in Weinheim über 100 Meter auf 11,25 Sekunden. „Da habe ich gemerkt, dass ich auch technisch einen Schritt weitergekommen bin.“ Langsam schienen alle Veränderungen ineinander zu greifen.

Wieder zwei Wochen später fuhr die Athletin also außergewöhnlich ruhig und wie sie selbst sagt, „so gut vorbereitet und organisiert wie noch nie“ zu den Deutschen Meisterschaften nach Braunschweig.

Der Befreiungsschlag

Natürlich ist es nicht so, als sei Alexandra Burghardt jetzt ein neuer Mensch, der die alten Gewohnheiten komplett abgelegt hat. „Beim Aufwärmen in Braunschweig kamen mir wieder Zweifel, ob ich es dieses Mal schaffen würde. Sie sind nicht komplett weg. Aber ich habe gelernt, damit umzugehen, sie kommen, aber auch gehen zu lassen. Und ich hatte zum ersten Mal tief in mir das Vertrauen, dass ich es tatsächlich schaffen könnte.“

Der Rest ist schnell erzählt: Im Halbfinale qualifizierte sie sich als Zweitplatzierte in 11,36 Sekunden hinter Lisa Mayer (Sprintteam Wetzlar) direkt für das Finale. Dort schaffte sie es, ihre starke Beschleunigungsphase bis ins Ziel zu verteidigen. In neuer Bestzeit von 11,14 Sekunden, gleichbedeutend mit der direkten Olympia-Qualifikation für einen 100-Meter-Einzelstart. Und auch einen Tag später behielt sie, trotz schlafloser Nacht und Anspannung am ganzen Körper, die Nerven und holte über 200 Meter den zweiten Sieg.

„It really takes a village – so viele Menschen begleiten mich täglich und unterstützen mich, ohne sie hätte ich das hier nie geschafft“, sagt die frischgekürte deutsche Sprint-Königin. Am Ende hat es die Sprinterin geschafft, ihren Weg zu finden und sich mit neuem Vertrauen in sich und ihr Umfeld ein „Dorf“ aufzubauen, mit dem sie wieder befreit auflaufen kann. Sechs Jahre nach der letzten Bestleistung, nach dem letzten DM-Titel und dem letzten internationalen Einzelstart ist es Alexandra Burghardt bei den Deutschen Meisterschaften in Braunschweig das gelungen, wofür sie lange gekämpft und vieles anders gemacht hat.

Im Video:

Wettkampf | Alexandra Burghardt stürmt zu DM-Titel und Olympia-Norm
Wettkampf | Alexandra Burghardt gewinnt auch Gold über 200 Meter
Interview | Alexandra Burghardt: "Die Olympia-Teilnahme ist mein Kindheitstraum"
Interview | Alexandra Burghardt: "Sleep is for the Weak"
 

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