| Rückspiegel

Mein Moment 2021: Der Befreiungsschlag von Alexandra Burghardt

Es müssen nicht immer Rekorde oder Medaillen sein – manchmal sind es die stillen Momente, besonderen Beziehungen oder außergewöhnlichen Geschichten, die im Sport besonders in Erinnerung bleiben. In der Reihe "Mein Moment" teilen einige der leichtathletik.de-Autorinnen und -Autoren diese Erinnerungen mit uns. Heute: Der Befreiungsschlag von Alexandra Burghardt bei den Deutschen Meisterschaften 2021 in Braunschweig.
Lea Saur

Ich schreibe diese Zeilen bereits im Juni. Genauer gesagt, am Sonntag Abend, 6. Juni, im Zug auf der Heimfahrt von den Deutschen Meisterschaften in Braunschweig. Das Jahr ist noch nicht einmal zur Hälfte um, und ich weiß trotzdem, dass ich meinen Leichtathletik-Moment 2021 bereits erlebt habe. Denn egal, was dieses Jahr noch kommt – dieses Wochenende wird mein emotionaler Höhepunkt gewesen sein.

Für mich waren diese Meisterschaften etwas ganz Besonderes. Natürlich waren sie das zum einen wegen der Rahmenbedingungen: Es waren die ersten nationalen Meisterschaften mit Zuschauern seit Beginn der Corona-Pandemie. Das DLV-Veranstaltungsmanagement hatte ein Großevent auf die Beine gestellt, zu dem kurzfristig sogar Zuschauer zugelassen werden konnten. Ich hatte die Jugend-DM in Heilbronn im September 2020 vor Ort begleiten dürfen, und ich erinnere mich gut, wie besonders es damals bereits gewesen war, Leichtathletik live im Stadion erleben zu können. Doch ein Wettkampf mit Zuschauern – das ist einfach nochmal was ganz Anderes.

Neben diesen Rahmenbedingungen war ich persönlich äußerst gespannt auf den Auftritt von Alexandra Burghardt. Wir kennen uns aus der Zeit, als wir beide in Mannheim studierten und wir immer wieder über die Uni oder den Verein Kontakt hatten.

Lange Liste an Staffel-Erfolgen

Alex war damals frisch nach Mannheim gewechselt und trainierte in der Trainingsgruppe von Valerij Bauer unter anderem zusammen mit Verena Sailer und Yasmin Kwadwo. Sie war Anfang 20 und alles andere als eine Unbekannte im deutschen Sprint. Insbesondere in der Staffel hatte sie schon beachtliche Erfolge gefeiert, wie U20-EM-Gold 2011 in Tallinn, U20-WM-Silber 2012 in Barcelona, 2015 und 2016 DM-Gold und 2017 mit der Sieg-Staffel bei den World Relays auf den Bahamas.

Bei Einzelstarts feierte sie 2015 als U23-Vize-Europameisterin hinter Rebekka Haase und 2016 als Deutsche U23-Meisterin ihren größten Erfolg. Ihre Bestzeiten, die bis vor Beginn dieser Saison galten, stammen von 2015. Danach tat sich lange nichts.

Nach Ende des Studiums verließen wir beide die Stadt. Ich behielt Alex über Social Media im Blick und freute mich, wenn wir uns sporadisch auf Wettkämpfen sahen. So auch bei der Kurpfalz Gala in Weinheim im Mai 2021.

Wiedersehen in Weinheim

Es war das erste Wiedersehen seit Langem. Alex hatte in den vorangegangenen Monaten mächtig Gas gegeben, das wusste ich von ihren Social Media-Kanälen, und das spiegelte sich auch in ihren Leistungen wider. All die Veränderungen, die sie in den Jahren zuvor angestoßen hatte, schienen so langsam ineinander zu greifen: Sie war zurück in die Heimat gegangen, startete wieder für ihren kleinen Verein (LG Gendorf Wacker Burghausen), legte über CrossFit deutlich im Maximalkraftbereich zu, fuhr alle paar Wochen mehrere hundert Kilometer zu ihrem Trainer Patrick Saile, der als neuer Nationaltrainer der Schweiz seinen Standort verlagert hatte, jobbte im Hotel ihres Freundes, arbeitete auch mental.

Weinheim war ihre letzte Station einer Wettkampfserie. Innerhalb von einer Woche war die Sprinterin bei drei Events am Start gewesen und hatte dafür insgesamt 34 Stunden Zeit mit An- und Abreise verbracht. „Ich bin froh um jede Möglichkeit, einen Startplatz zu bekommen. Nach so langer Zeit ohne Kaderstatus und ohne Bestzeit ist das nicht einfach“, erzählte sie. Schon beim ersten Start der Saison unter freiem Himmel, beim Meeting „Road to Tokyo“ in Mannheim, hatte sie neue Bestleistungen aufgestellt (11,29 sec und 23,00 sec). Sechs Jahre lang hatten die alten Bestzeiten bis dahin Bestand gehabt.

Bei der Kurpfalz Gala lief sie 11,25 Sekunden (11,24 sec mit zu viel Wind) – wieder Bestleistung. Auf die 200 Meter, für die sie gemeldet gewesen war, verzichtete sie nach den Belastungen der letzten Tage. So blieb ein wenig Zeit für einen Plausch.

„It takes a village“

Wir tauschten uns darüber aus, was in den letzten Jahren passiert war. Alex berichtete von den Entscheidungen, die sie getroffen hatte, und von den Veränderungen, die diese bewirkt hatten. „‘It takes a village‘ – das ist einfach so wahr“, sagte sie. „Ich habe so viele Menschen um mich, die mich so sehr unterstützen. Stück für Stück kommt alles zusammen und ich freue mich, ihnen etwas zurückgeben zu können.“

Den Weg, den sie beschrieb, und die Art, wie sie das tat, vermittelte, dass sie nicht nur ein ganzes Stück weiter gekommen war, sondern auch, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis endlich wirklich alles zusammenkommen würde. Den Eindruck, den ich von ihren Kanälen und den Ergebnissen der letzten Wochen hatte, verfestigte sich. Ich wusste spätestens in Weinheim: Die Deutschen Meisterschaften werden Alex‘ Meisterschaften.

Schon auf der Fahrt zu meinem Arbeitseinsatz in Braunschweig schrieb ich Alex, dass ich gerne nach der DM mit ihr telefonieren würde. Dann könnten wir auch gleich ihre Medaille mit einbeziehen, schrieb ich. Ich wollte ihr keinen Druck machen, aber ich wusste einfach, was kommen würde. Und ich glaube, sie wusste es auch.

Alex‘ Moment

In ihrem Halbfinale wurde Alex Zweite in 11,36 Sekunden hinter Lisa Mayer (Sprintteam Wetzlar; 11,27 sec). 11,36 Sekunden liefen auch Tatjana Pinto und Rebekka Haase. Alex‘ Rennen war gut, aber nicht außergewöhnlich.

Als die Final-Sprinterinnen vor ihren Startblöcken auf das Kommando warteten, um in den Block zu steigen, machte ich noch schnell ein Foto. Dann rannte ich schnell auf die Tribüne, um den Lauf in voller Länge verfolgen zu können.

Es knallte, und Alex war vorne. Sie war mit dem ersten Schritt vorn und sie blieb vorn. Ich wusste zu jedem Moment des Laufs, wie er ausgehen würde. Und dass Alex‘ Moment gekommen war.

Mein Moment

Als sie im Ziel war, rannte ich zum Zielauslauf. Ich war selbst so überwältigt und gebannt, dass ich einfach nur dort stand. Alex war umringt von Fotografen. Sie war Deutsche Meisterin geworden, in phänomenaler Bestzeit von 11,14 Sekunden und mit Olympia-Norm. Sie hatte all die Arbeit, all die Unsicherheiten und mutigen Entscheidungen in einem Moment verwandelt und sich selbst einen Befreiungsschlag beschert.

Die Ausdauer, die Alexandra Burghardt jahrelang aufgebracht hat, die Disziplin, die Resilienz, die sind unabdingbar für eine Leistungssport-Karriere. Ohne diese Fähigkeiten wäre Alexandra Burghardt nicht Deutsche Meisterin 2021 geworden. Auch Glück gehört dazu, denn es gibt viele Sportlerinnen und Sportler, die genauso hart an sich arbeiten, an sich glauben und es dennoch nicht schaffen, zurückzukommen.

Mein Moment hat zum einen damit zu tun, dass bei Alex alles ineinander griff, alles passte, und sich in diesem – ihrem – Moment manifestierte. In einer tollen Zeit, im Titel, im Ticket für Olympia. Zum anderen hat er damit zu tun, dass sich im gleichen Moment zeigte, als der Druck von ihr abfiel, was für eine authentische, bodenständige und liebenswerte Person Alexandra Burghardt ist. Nicht nur die Leistung an sich, sondern der Weg dorthin und die Persönlichkeit dahinter sind es, die mir meinen Moment 2021 beschert haben. 

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