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Christina Honsel – In Höhen und Karriere hineingewachsen

Olympia-Verschiebung, EM-Absage, viel Unsicherheit, dann aber doch Deutsche Meisterschaften in Braunschweig. Im Jahr 2020 war coronabedingt vieles anders. Hervorgebracht hat der Sommer dennoch wieder neun DLV-Athleten, die ihren ersten nationalen Einzeltitel bei den Erwachsenen gewonnen haben. Wir stellen sie vor, heute Hochspringerin Christina Honsel (TV Wattenscheid 01).
Jan-Henner Reitze

Christina Honsel
TV Wattenscheid 01

Bestleistung:

Hochsprung: 1,92 Meter (2019)

Erfolge:

Silber U23-EM 2019
Deutsche Meisterin 2020

Sie ist in diesem Sommer der Rolle der Favoritin bei den Deutschen Meisterschaften in Braunschweig gerecht geworden. Im Jahr 2019 stieg sie quasi aus dem Nichts zur 1,90-Meter-Springerin und Zweiten der U23-EM auf. Im kommenden Jahr richtet sich der Blick auf die Höhe von 1,96 Meter und die Olympischen Spiele in Tokio (Japan). Hätte man Christina Honsel vor ein paar Jahren diese Sätze vorgelesen, wäre sie bestimmt skeptisch gewesen, dass von ihr die Rede ist. Denn es ist aus verschiedenen Gründen lange verborgen geblieben, dass in ihr eine international konkurrenzfähige Hochspringerin steckt.

In jungen Jahren drehten sich die Träume nicht um das sportliche Rampenlicht mit olympischem Glanz. Später machten auch immer wieder Verletzungen ein kontinuierliches Training unmöglich. Das Potenzial der 23-Jährigen offenbarte sich nicht. Das Corona-Jahr hatte deshalb auch seine Vorteile, denn endlich war mal Zeit, an der noch immer nicht perfekten Technik zu feilen.

Späte Orientierung in Richtung Leistungssport

Der Start in der Leichtathletik verlief klassisch. Im Alter von sechs Jahren nahm Christina Honsel gemeinsam mit ihrer Schwester das Training in ihrer Heimat am nördlichen Rand des Ruhrgebiets bei der LG Dorsten auf. Beim Ausprobieren der Disziplinen stellte sich schnell heraus, dass ihr die Sprungdisziplinen lagen. Dieses Talent ist bis heute in der Liste der Rekorde des Kreises Recklinghausen dokumentiert. Im Jahr 2010 sprang die damals 12-Jährige in einem Wettkampf 5,22 Meter weit und 1,68 Meter hoch, gleichzeitig stellte die B-Schülerin an diesem Tag einen Kreisrekord im Vierkampf auf, den sie sich vorher auch schon im Blockwettkampf Sprint/Sprung geholt hatte. Die Hochsprung-Leistung bedeutete gleichzeitig die Einstellung des Westfalenrekordes der Altersklasse W13.

Tolle Leistungen für eine so junge Athletin, die auch mit Aufmerksamkeit in der lokalen Presse verbunden waren. Sie führten aber nicht dazu, dass der Trainings-Ehrgeiz geweckt wurde und eine internationale Karriere als Ziel am Horizont erwuchs. „Meine Eltern haben mir da auch keinen Druck gemacht, ich konnte das immer selbst entscheiden“, erzählt Christina Honsel, die sich selbst in dieser Zeit eher als trainingsfaul bezeichnet. Mit dem Aufstieg in die U18 und der Möglichkeit auf nationaler Ebene zu starten erweiterte sich der sportliche Horizont auch um stärkere Konkurrentinnen. Die ersten Teilnahmen bei Deutschen Jugendmeisterschaften brachten 2013 in Rostock Rang sechs (1,71 m) und 2014 in Bochum (1,68 m) Rang elf.

Die Ambitionen, mit den Besten ihrer Altersklasse mitzuhalten, nahmen zu. Allerdings bremsten auch anhaltende Probleme mit dem rechten Sprungfuß das Training immer wieder aus. Potenzial und „Killerinstinkt“ blitzten 2015 bei der Jugend-DM in Jena auf, als die damalige U20-Athletin ihre Freiluft-Bestleistung um sechs Zentimeter steigerte, erstmals 1,80 Meter meisterte und sich den Titel sicherte. Für Starts bei internationalen U20-Meisterschaften reichte es nicht, weil andere DLV-Nachwuchsathletinnen noch höher sprangen. Außerdem verhinderte 2016 ein Ermüdungsbruch die Titelverteidigung bei der Jugend-DM.  

Das leidige Thema Sprungfuß

Die Entscheidung, sich nach dem Abitur in Richtung Dortmund zu orientieren, hing in erster Linie mit dem Beginn des Studiums im Fach Wirtschaftswissenschaften an der TU dort zusammen. Nachdem Christina Honsel die rund 50 Kilometer aus dem heimischen Dorsten zuerst pendelte, folgten der Umzug und der Vereinswechsel ins Trikot der LG Olympia Dortmund sowie der Anschluss an die Trainingsgruppe von Bundestrainerin Brigitte Kurschilgen.

Mit diesem Schritt wurde nicht nur das sportliche Umfeld professioneller, auch große Ziele der Trainingspartner um Falk Wendrich (LAZ Soest) färbten ab. Was allerdings blieb, waren Schmerzen im Fuß, obwohl nahezu jedes Training mit Fußstabilisation begann, und in den Jahren 2017 und 2018 die Bestleistung von 1,81 Meter. Es stellte sich heraus, dass die Hochspringerin ein „Os trigonum“ besitzt. Das ist ein zusätzlicher Knochen im Sprungbein an der Ferse, den nur ein kleiner Teil der Bevölkerung hat, die meisten ohne davon zu wissen. Nachdem die konservative Behandlung keine vollständige Linderung brachte, ist der Knochen im vergangenen November entfernt worden. Seitdem herrscht zumindest mehr Ruhe.

„Der Fuß wird immer eine Schwachstelle bleiben. Natürlich nervt das auch“, sagt die Deutsche Meisterin. „Auf der anderen Seite gibt es mir auch Zuversicht, dass ich mich nach Verletzungen und Operationen zurückkämpfen konnte. Wenn jetzt mal etwas schiefgeht, kann ich damit gelassener umgehen.“

Plötzlich über 1,90 Meter

Über Jahre hinweg war es nicht möglich, längerfristig Schnelligkeit, Sprungkraft und Technik aufzubauen oder kontinuierlich zu verbessern. Von einem Lichtblick zu einer Initialzündung entwickelte sich die Hallensaison 2019. Nach Bestleistung zum Saisoneinstand von 1,82 Meter folgte in Weinheim gleich die überraschende Steigerung auf 1,88 Meter und eine Woche danach mit dem ersten Sprung über 1,90 Meter und Bronze bei der Hallen-DM in Leipzig der Aufstieg in eine neue Leistungsklasse. Plötzlich eröffneten sich wieder ungeahnte Perspektiven.

Auch der anschließende Sommer lief mit einer Freiluft-Bestleistung von 1,84 Metern nicht schlecht an. Unmittelbar vor der U23-EM in Gävle (Schweden) hatte sich im Sprungfuß aber schon wieder eine Entzündung so breit gemacht, dass im Training keine Sprünge auf der Anlage möglich waren. Umso bemerkenswerter war dort der Flug über 1,92 Meter zu Silber – und der nächste Beweis dafür, welch starke Wettkämpferin Christina Honsel ist. In die Karten spielte der DLV-Athletin dabei auch, dass sie in der verregneten Qualifikation nur drei Sprünge absolvieren und nach übersprungenen 1,78 Meter ihren Fuß schonen konnte.

Der bisher beste Wettkampf der Karriere brachte sogar noch die sehr kurzfristige Einladung zur WM nach Doha (Katar). Mit 1,80 Meter war die Qualifikation dort zwar früh beendet, aber dennoch weitere Motivation und Erfahrung gesammelt. „Ich war schon in der Off Season, als ich von meiner Startmöglichkeit bei der WM erfahren habe, und eigentlich mit einer Uni-Klausur beschäftigt. Die Spannung war weg und ich konnte sie nicht wieder aufbauen“, erzählt die Zweite der U23-EM. „Dennoch war es für mich sehr wertvoll dabei gewesen zu sein. Ich möchte auf jeden Fall noch bei einem Großevent zeigen, was ich wirklich kann.“

Endlich mehr Stabilität gewonnen

Im zurückliegenden Jahr konnte trotz der schon angesprochenen OP und einer Kapselverletzung im Frühjahr endlich vergleichsweise strukturiert an diesem Ziel gearbeitet werden. Da die Hallensaison noch zu früh kam, war sowieso schon Zeit für einen langfristigen Aufbau, der durch die Coronakrise ungeplant noch einmal verlängert wurde. Zuerst führten die Olympia-Absage und die Unsicherheit, ob überhaupt Wettkämpfe im Sommer stattfinden würden, zu einem Motivations-Loch, dann machten Athletin und Trainerin das Beste daraus.

Christina Honsel konnte im Training endlich einige der unzähligen Sprünge nachholen, die ihr aus den vergangenen Jahren fehlten. Vor allem die Lattenüberquerung ist noch immer ausbaufähig, dieses Thema konnte aber endlich konzentriert angegangen werden. Was aus kurzem Anlauf mittlerweile schon besser läuft, muss sich für den Wettkampf aus langem Anlauf noch weiter stabilisieren.

„Die Auswertung meines 1,90-Meter-Sprungs bei den Deutschen Meisterschaften hat ergeben, dass mein Körperschwerpunkt bei 1,99 Meter war“, berichtet die Siegerin von Braunschweig, die seit diesem Jahr für den TV Wattenscheid 01 startet. „Mit einer besseren Rotation über der Latte ist also noch mehr drin.“  Mit zweimal 1,90 Meter und einmal 1,88 Meter bei sechs Wettkämpfen ging das Niveau dennoch wie erhofft ein Stück nach oben.

1,96 Meter das erklärte Ziel

Damit die Technik-Anpassungen nicht wieder verloren gehen, ging Christina Honsel auch in der eigentlichen Saisonpause zwischendurch immer wieder an die Anlage. Mittlerweile hat der Aufbau für das kommende Jahr wieder begonnen. Nach erfolgreichem Bachelor-Abschluss läuft außerdem gerade das Masterstudium in Medien- und Kommunikationsmanagement an, allerdings nicht an der TU Dortmund, sondern als Fernstudium, um den Alltag besser auf den Sport abstimmen zu können. Ein weiterer Baustein, der für die immer professionelleren Ambitionen im Sport steht.

Und auch das Ziel, das die 23-Jährige formuliert, zeigt, dass sie endgültig im Leistungssport angekommen ist. „Ich möchte mit 1,96 Meter die Olympia-Quali springen. Das war mal eine Vision, die aber immer näher gerückt ist.“ Sehr gerne darf diese Höhe auch schon in der Wintersaison einmal aufliegen, die schon so oft ohne die Höhenjägerin stattfand.

Video: Christina Honsel erobert mit 1,90 Meter den Hochsprung-Thron

Das sagt Heimtrainerin und DLV-Teamleiterin Hochsprung Brigitte Kurschilgen:

Die Entwicklung von Christina ist ungewöhnlich und auch für mich als Trainerin ungewohnt. Viele Athleten, die ich im Nachwuchsalter übernommen habe, sind nach und nach immer besser, professioneller und damit auch ambitionierter geworden. Bei Christina war es, als hätte sie im vergangenen Jahr einen Schalter umgelegt. Sie ist mit einer Bestleistung von 1,81 im Wettkampf und 1,76 Meter im Training in das Jahr 2019 gestartet und dann in der Halle für mich und für sie selbst völlig überraschend 1,90 Meter gesprungen.

Durch ihre immer wiederkehrenden Fußprobleme hatte sie im Training nie die Gelegenheit, eine solche Höhe anzudeuten oder zu spüren, zu welchen Höhen sie in der Lage ist. Es ging immer darum, in wenigen Wochen für eine Meisterschaft fit zu werden. So stand das Training, wenn es denn möglich war, auch immer unter einem besonderen Druck. In diesem Jahr hat sich das erstmals verändert. Erst da hat sich ihre Wettkampfleistung auch in den Zubringerwerten gezeigt, die sukzessiv besser werden. Das bringt natürlich noch einmal neues Selbstvertrauen. Dass sie eine fantastische Wettkämpferin ist, hat Christina sowieso schon mehrfach bewiesen.

Was die Lattenüberquerung betrifft, hat die physiotherapeutische Behandlung die Beweglichkeit verbessert und es gibt Fortschritte. Schon in diesem Jahr wäre eine Bestleistung möglich gewesen. Allerdings ist es noch nicht gelungen, die Änderungen auch unter dem Stress und mit der höheren Geschwindigkeit des Wettkampfes abzurufen. Aber ich bin zuversichtlich, dass es noch ein ganzes Stück höher gehen kann. Christina wird auch davon profitieren, wenn sie häufiger gegen stärkere Konkurrenz antreten kann.

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