| Interview der Woche

Ronald Stein: "Wir wollen in Rio eine Sensation erreichen"

Das Olympia-Jahr wirft nach den Weltmeisterschaften in Peking (China) schon seine Schatten voraus. Im Interview mit der Fachzeitschrift "Leichtathletik" spricht Sprint-Bundestrainer Ronald Stein über die Entwicklung der deutschen 4x100-Meter-Staffeln und die Ziele für die Spiele in Rio (Brasilien). Dazu gehören auch Medaillen-Träume.
Daniel Becker

Ronald Stein, bei der WM hat die deutsche Männer-Staffel über 4x100 Meter nur um zwei Hundertstelsekunden eine Medaille verpasst. Dann ist das Ziel für die Olympischen Spiele in Rio doch klar, oder?

Ronald Stein:

Es war ja nicht nur in Peking so, sondern auch 2013 bei der WM in Moskau sind wir Vierter geworden. Wir haben da schon gesagt, dass wir in Richtung der Olympischen Spiele 2016 in Rio von einer Medaille träumen. Das ist für deutsche Sprinter wirklich eine große Vision und ich bin stolz, dass sich die Athleten mit ihr im Training motivieren. Klar wurden in diesem Jahr die USA disqualifiziert und andere Staffeln, wie beispielsweise Frankreich, sind im Finale nicht mehr so schnell gelaufen wie im Halbfinale. Die Konkurrenzsituation ist unglaublich hart, aber ich denke, wenn wir nächstes Jahr in Rio mit vier Mann an der Start gehen können, die in absoluter Top-Form sind, dann können wir uns für das Finale qualifizieren. In einem olympischen Finale ist dann auch immer einiges möglich. Wir wollen einfach eine Sensation erreichen.

Top-Leute wie Christian Blum (TV Wattenscheid 01) und Lucas Jakubczyk (SCC Berlin) waren in diesem Jahr lange verletzt. Auf der anderen Seite haben etwa Aleixo-Platini Menga (TSV Bayer 04 Leverkusen) und der Wattenscheider Oldie Alexander Kosenkow in Peking starke Vorstellungen abgeliefert. Wird der Konkurrenzkampf um die Staffel-Plätze in Rio noch einmal härter?

Ronald Stein:

In den Einzeldisziplinen, da müssen wir uns nichts vormachen, wird es schwer, ins Finale zu laufen. Das haben wir ja auch dieses Jahr gesehen. Der Einzug von Julian Reus ins Halbfinale über 100 Meter als erstem Deutschem seit 1983 – das war natürlich schon eine super Vorstellung. Aber es ist eben trotzdem immer noch ein ganzes Stück weit weg, um sich einzeln unter den ersten Acht zu platzieren. Unsere Chance – sowohl bei den Männern, als auch bei den Frauen – uns auf internationalem Welt-Parkett vornezu platzieren, liegt eben in den Staffeln. Dort wird auch im nächsten Jahr unser Augenmerk liegen, was aber nicht heißt, dass wir uns in den Einzeldisziplinen nicht qualifizieren und gute Ergebnisse erzielen wollen.

Julian Reus (TV Wattenscheid 01) hat noch einige Großereignisse vor sich. Ist ein Finaleinzug bei einer WM oder bei Olympischen Spielen wirklich utopisch?

Ronald Stein:

Es sieht zumindest aktuell so aus. Ich weiß natürlich nicht, wie seine Entwicklung der Einzelzeiten voranschreitet. Man darf nicht vergessen, dass er zu Beginn der Saison verletzt war, und vielleicht wäre es möglich gewesen, noch ein bisschen schneller zu laufen. Man muss jedoch unter zehn Sekunden laufen, um ins Finale zu kommen. Aber klar, es muss die Zielstellung sein, dass wir uns in den Einzeldisziplinen über 100 Meter und über 200 Meter weiterentwickeln. Allerdings musste man in diesem Jahr bei der WM 10,12 Sekunden laufen, um sich über die Zeit für das Halbfinale zu qualifizieren. In Moskau haben noch 10,20 Sekunden gereicht. Die Anzahl der Läufer, die im Bereich um 10,00 und 10,05 Sekunden laufen, hat sich in den letzten Jahren nochmal vergrößert. Aber einen Lauf ins Finale auszuschließen und zu sagen, das sei nicht unser Ziel und wir wären absolut chancenlos, wäre natürlich auch der falsche Weg. Wir wollen vor allem die mentalen Grenzen verschieben und versuchen immer wirksamer zu trainieren. Hierzu müssen wir unsere Rahmenbedingungen weiter optimieren.

Julian Reus ist mit dem deutschen Rekord von 10,05 Sekunden aus 2014 und seiner Saisonbestleistung von 10,09 Sekunden 2015 ja nicht weit von der Neun vor dem Komma entfernt. Könnte es nochmal zusätzliche Kräfte freisetzen, wenn er die Marke von 10,00 Sekunden durchbricht?

Ronald Stein:

Das ist natürlich schon eine magische Grenze. Aber man kann nicht davon ausgehen, dass wenn Julian beispielsweise bei 1,8 Metern Rückenwind den deutschen Rekord auf 9,99 oder 9,98 Sekunden schraubt, dies dann auch seinem tatsächlichen Leistungsniveau entspricht. Das wäre dann die Peak-Leistung. Ich habe gerade an der WM-Analyse gesessen und es ist so, dass die Finalteilnehmer ein ganz stabiles Niveau um 9,90 oder 9,95 Sekunden haben. Das ist dann nochmal der nächste Schritt. Es ist die eine Sache, einmal eine Top-Leistung zu erzielen. Sich dann aber auf dem Niveau zu stabilisieren, ist eine ganz andere Aufgabe.

Wie zufrieden sind Sie denn mit der Entwicklung der deutschen Top-Sprinter in diesem Jahr?

Ronald Stein:

Wenn man es ganz nüchtern betrachtet, hat sich bis auf Sven Knipphals und Robert Hering im Bereich der absoluten Bestleistung keiner so richtig weiterentwickelt. Es ist eher so, dass sich die Athleten auf einem für deutsche Verhältnisse relativ hohem Niveau stabilisiert haben. Wir hatten allerdings auch nicht die absoluten Top-Bedingungen wie beispielsweise bei den Deutschen Meisterschaften in Ulm 2014 oder bei anderen Meetings, bei denen Verhältnisse mit 1,5 bis 2,0 Meter Rückenwind pro Sekunde herrschten.

Mit Blick auf die Besetzung der Olympia-Staffel: Hinter den starken arrivierten Kräften stehen vor allem mit Patrick Domogala (MTG Mannheim) und Lukas Hein (LAZ Saarbrücken) zwei junge Sprinter in den Startlöchern. Können die beiden ein Wörtchen um die Staffel-Plätze mitreden?

Ronald Stein:

Patrick ist bei den World Relays ja schon eingesetzt worden und war bei den Europameisterschaften schon Ersatzmann. Bei ihm denke ich, dass er gute Chancen hat, einen der sechs Plätze zu ergattern – wenn er gesund durch die Saison kommt und sich weiterentwickelt. Bei Lukas Hein, der jetzt aus der Jugend kommt, wird es wahrscheinlich schwierig. Er wird sich im ersten Jahr bei den Männern zunächst einmal versuchen müssen durchzusetzen. Das wird schwer genug. Ob es da dann für ein Olympiaticket reicht, werden wir sehen. Wenn er sich auf 10,10 oder 10,15 Sekunden verbessert – auf diese Zeiten hoffe ich im Schnitt im nächsten Jahr –, kommt er aber natürlich auch in Frage.

Wie sieht für die Staffeln die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in der kommenden Saison genau aus?

Ronald Stein:

Wir werden das so machen wie in den letzten Jahren auch. Wir werden nach Clermont (USA) fahren und uns dort auch mit einigen Wettkämpfen vorbereiten. Dann werden wir ganz normal in die Saison in Deutschland einsteigen, die am Anfang sehr kurz sein wird, weil am 18. und 19. Juni schon die Deutschen Meisterschaften stattfinden. In Regensburg werden wir dann mit beiden Staffeln nochmal einen kleinen Test in Vorbereitung auf die Europameisterschaften machen. Nach den Europameisterschaften bereiten wir uns dann explizit in Kienbaum auf die Olympischen Spiele vor.

Wie wichtig ist die EM in Amsterdam (Niederlande) in der Vorbereitung auf Rio, und was können die Athleten dort alles mit Blick auf Olympia mitnehmen?

Ronald Stein:

Wir hatten das so ja auch 2012 schon, als die Damen in der Staffel Europameister und die Herren Vize-Europameister geworden sind. Im Sprint-Bereich werden alle Top-Athleten an den Start gehen, auch in den Staffeln. Zum einen ist es nochmal ein guter Test – und für die Nationen, die sich noch nicht für Rio qualifiziert haben, geht es darum, unter die acht Zeitschnellsten zu kommen. Das wird nochmal eine ordentliche Bewährungsprobe und wir wollen sowohl in den Einzeldisziplinen als auch in den Staffeln gute Ergebnisse erzielen. Ich sehe da auch in der Vorbereitung auf Olympia kein Problem, weil es auch 2012 schon gut geklappt hat. Wir werden daher in der Vorbereitung auch nicht viel anders machen. Um uns zu entwickeln, benötigen wir die Herausforderungen der internationalen Meisterschaften, und daher ist die EM in Amsterdam für uns wichtig.

Sprechen wir auch über die Damen. Verena Sailer (MTG Mannheim) hat vor zwei Wochen ihr Karriereende bekannt gegeben. Welche Lücke hinterlässt sie?

Ronald Stein:

Zunächst war es für mich eine überraschende Information, dass Verena
ihre sportliche Laufbahn beendet …

… Sie waren also vorher nicht eingeweiht?

Nein,einen Tag, bevor die Pressemitteilung rausging, hat Verena mich angerufen und informiert. Das ist eine private und persönliche Entscheidung. Und wenn sie der Meinung ist, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, um die Spikes an den Nagel zu hängen, dann akzeptiere und respektiere ich das natürlich auch, das ist ganz klar. Es ist natürlich eine Frage der Motivation. Wenn der Kopf nicht mehr zu 100 Prozent dazu bereit ist, sich zu quälen, dann macht es am Ende auch keinen Sinn. Nur als Mitläuferin dabei zu sein ist nicht Verenas Ding. Da kenne ich sie gut genug.

Es kommen aktuell aber unheimlich viele junge Athletinnen nach. Rebekka Haase (LV 90 Erzgebirge) ist schon ganz vorne, und mit Gina Lückenkemper (LAZ Soest) hat eine 18-Jährige schon dieses Jahr den Sprung in die Staffel und auch die WM-Einzelnorm geschafft. Warum rücken mehr Damen als Herren in die nationale Spitze nach?

Ronald Stein:

Das ist eine schwierige Frage. Es ist eine Entwicklung in Wellen. Manchmal hat man Jahrgänge, die einfach unheimlich stark sind und wo viele im Erwachsenenbereich ankommen, manchmal brechen aus privaten oder beruflichen Situationen gute Talente noch weg. Bei den Frauen haben wir im Moment eine extreme Breite an Athletinnen, die in den U23-Bereich kommen, gute Bedingungen und gute Heimtrainer haben und auch vom DLV gut unterstützt werden. Da sieht es für die Zukunft relativ gut aus.

Trauen Sie einer oder vielleicht sogar mehreren der jungen Athletinnen zu, in der europäischen Spitze eine Rolle einzunehmen, wie sie Verena Sailer innehatte?

Ronald Stein:

Einen Leitwolf zu haben, eine Athletin, die vorneweg geht, ist natürlich nie schlecht. Das wird sich in den nächsten Jahren über die Entwicklung der Persönlichkeiten herauskristallisieren, natürlich aber auch über das Leistungsniveau und über die Erfolge. Einen Namen zu nennen ist schwierig. Ich bin zunächst einmal sehr froh,dass es so viele Damen gibt, die den Anschluss direkt geschafft haben. Wir hatten drei Damen in der WM-Staffel, die vorher noch nie bei einer Weltmeisterschaft gewesen sind. Ich weiß nicht, ob es ein Novum war, aber es war auf jeden Fall außergewöhnlich. Dass im „Vogelnest“ keiner geflattert hat und alle ihre Leistungen abgerufen haben, zeigt, dass die Mädels auf einem sehr guten Weg sind.

<link>Quelle: Leichtathletik - Ihre Fachzeitschrift

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