| Interview

Thomas Kurschilgen: "Das war mehr als großes Kino"

Der mitreißende Sieg der deutschen Leichtathleten bei der Team-EM in Braunschweig und begeisternde Momente bei der EM in Zürich: Das Jahr 2014 war für die deutschen Athleten voller emotionaler Höhepunkte. DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen blickt im Interview aber nicht nur auf die großen Erfolge des vergangenen Jahres zurück, sondern wirft auch einen hoffnungsvollen Blick nach vorn.
Martin Neumann

Thomas Kurschilgen, blicken wir aufs Leichtathletikjahr 2014 zurück. Wie fällt Ihre Bilanz aus?

Thomas Kurschilgen:

Das Jahr 2014 in wenigen Sätzen zu skizzieren, ist bei der Vielzahl der internationalen Meisterschaften in den unterschiedlichen Altersklassen kaum möglich. Ich möchte mich ausschließlich auf die A-Nationalmannschaft und die drei Höhepunkte Hallen-WM, Team-EM und EM begrenzen. Allein dort waren 151 DLV-Athleten am Start. Schon dies zeigt, wie umfassend und komplex eine individuelle Bilanz ausfallen müsste. Bei der Hallen-WM platzierten sich von den 20 Startern 18 unter den Top Zwölf. Das ergab 48 Nationenpunkte und war die beste Punktzahl bei einer Hallen-WM seit 1999. Das Team lieferte eine außergewöhnliche Performance ab. Bei der Team-EM in Braunschweig haben wir das beste Ergebnis einer DLV-Nationalmannschaft in diesem Wettbewerb gesehen und außerdem ein fantastisches Leichtathletik-Team erlebt. Die Athleten haben an sich geglaubt, sind füreinander eingetreten und haben die Fans im Stadion und vor dem Fernsehbildschirm mitgerissen und begeistert. Das war mehr als großes Kino, was diese Mannschaft um Kapitän Robert Harting für die deutsche Leichtathletik geleistet hat.

Kommen wir zur EM in Zürich.

Thomas Kurschilgen:

Dort haben wir mit 43 Endkampfplatzierungen eine überdurchschnittlich hohe Finalplatzierungsquote erreicht. Das waren mehr als bei allen anderen Nationen und mehr als bei allen „großen“ Europameisterschaften seit 1998. Neben den acht Medaillen gab es 16 vierte oder fünfte Plätze. Davon waren mehr als einige medaillenfähig. Beispielsweise Stabhochspringerin Lisa Ryzih. Mit 4,60 Metern sprang sie als Vierte so hoch wie die Zweitplatzierte. Oder Weitspringerin Malaika Mihambo, die nur aufgrund des schlechteren zweiten Versuchs die Medaille verfehlt hat.

Welche Gründe haben Sie in der Analyse für die trotzdem durchwachsene EM gefunden?

Thomas Kurschilgen:

Dieses junge Team mit vielen U23-Athleten hätte mehr Medaillen verdient gehabt. In manchen Fällen fehlte das besondere Moment oder die Tagesform, in anderen Fällen hat das Quäntchen Glück gefehlt. Wir sollten nicht vergessen: Es ging manchmal um wenige Hundertstel oder den einen Zentimeter. Die Leistungsdichte ist auch in Europa immens hoch. Allerdings ist es einigen Athleten-/Trainerteams nicht gelungen, ihre gute Form von der Team-EM über die Deutschen Meisterschaften zur EM nach Zürich zu bringen. Die DM in Ulm lag diesmal eine Woche früher als im Jahr 2010. Zudem müssen wir immer mehr erkennen: Die Wettbewerbsbedingungen sind ungleich fair, da die Dopingbekämpfung von Land zu Land ganz unterschiedlich ausgeprägt ist.

Sie sprechen die ARD-Dokumentation „Geheimsache Doping - Wie Russland seine Sieger macht“ an. Wie war Ihre Reaktion auf die massiven Dopingenthüllungen?

Thomas Kurschilgen:

Aus meiner Sicht ist der Beitrag schockierend für den ganzen Spitzensport. Was in den heimlichen Videoaufnahmen zu sehen ist, erschreckt und betrübt mich.

Haben Sie geglaubt, dass es ein solches Dopingnetzwerk in Russland gibt?

Thomas Kurschilgen:

Die Dimension habe ich mir nicht vorstellen können. Mit den vielen Doping-gesperrten Athleten muss sich Russland konsequent mit den Vorwürfen auseinandersetzen. Die internationalen Verbände wie auch die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA sollten sich um eine lückenlose Aufklärung bemühen.

Hatten Sie schon so etwas geahnt? Beispielweise stand keine Russin im EM-Finale über 400 Meter. In früheren Jahren hätten die Russinnen das komplette Finale stellen können …

Thomas Kurschilgen:

… man stellt das zum Zeitpunkt der Wettkämpfe fest. Zu weiterreichenden Überlegungen über die russische Leichtathletik führt das in der Hektik und Anspannung einer EM aber nicht.

Zurück zu den deutschen Athleten: Wie haben Sie die Stimmung beim Top-Team-Trainingslager im Dezember in Südafrika erlebt?

Thomas Kurschilgen:

Südafrika hat gezeigt, dass der Team-Begriff für uns keine leere Worthülse darstellt, sondern ein wesentliches Asset für eine erfolgreiche DLV-Nationalmannschaft ist. Es war eine teambildende Maßnahme mit rund 120 Beteiligten. Für uns ist die Arbeit in Teams ein extrem wichtiger Punkt, das haben die Erfolge seit der WM 2009 in Berlin gezeigt. Die Stimmung war aus meiner Sicht fantastisch. Ich habe beim täglichen Training Athleten gesehen, die konsequent und gewissenhaft arbeiten. Sie gehen die Herausforderungen der kommenden Jahre motiviert an und haben Peking und Rio fest im Blick.

Welche Leistung eines deutschen Leichtathleten hat Sie 2014 am meisten beeindruckt?

Thomas Kurschilgen:

Schon direkt nach der EM in Zürich habe ich gesagt, wie sehr mich die Leistung von Antje Möldner-Schmidt beeindruckt hat. Das ist auch nach einigen Monaten Abstand der Fall. Dass sie nach ihrer schweren Erkrankung überhaupt im Jahr 2010 zurückkehrt und dann nach EM-Bronze 2012 in Helsinki sowie dem Olympia-Finale in London nun in Zürich den Titel holt, hätte wohl niemand gedacht. Es war für mich der emotionalste Leichtathletik-Moment des Jahres.

2015 steht der Jahreshöhepunkt der Leichtathleten Ende August mit der WM in Peking auf dem Programm. Wie sehen die Ziele der deutschen Leichtathletik aus?

Thomas Kurschilgen:

Wir hatten dieses Jahr eine sehr junge Mannschaft mit einem Durchschnittsalter von 25,2 Jahren bei der EM am Start. Das zeigt das Potenzial für die kommenden Jahre. Dazu stehen Leistungsträger wie Weltmeisterin Christina Obergföll und Weltmeister Raphael Holzdeppe sowie die Vize-Weltmeister Michael Schrader und Malte Mohr oder auch Björn Otto vor der Rückkehr ins Team. Eine gute Ausgangsposition für das Team um Cheftrainer Idriss Gonschinska. Um Finalplatzierungen für Peking zu prognostizieren, sollten wir allerdings bis zur Freiluftsaison warten. Alles andere wäre verfrüht.

Es soll im IOC Diskussionen geben, nach den Olympischen Spielen 2016 in Rio einige Leichtathletik-Disziplinen aus dem Programm zu streichen. So sollen 200 Meter, 10.000 Meter, Kugelstoßen, Dreisprung und eine Entscheidung der Geher auf dem Prüfstand stehen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Thomas Kurschilgen:

Ich habe das bisher nur am Rande verfolgt. Wenn dem so sein sollte, halte ich die Überlegungen in diese Richtung für sehr bedenklich. Es ist unstrittig, dass seit einigen Jahren die Bindung der jungen Zuschauer an die Leichtathletik bei internationalen Meisterschaften abnimmt. Es bedarf notwendiger Reformen. Bevor man allerdings über Streichungen nachdenkt, ist die Präsentation der Leichtathletik zu verbessern. Da sind die internationalen Gremien massiv gefordert. Die Leichtathletik mit ihrer Vielzahl von Disziplinen ist ein über ein Jahrhundert altes und schützenswertes Kulturgut. Über 10.000 Meter möchte ich weder Nurmi noch Gebrselassie oder Farah missen.

<link>Quelle: Leichtathletik - Ihre Fachzeitschrift

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