| Interview

Alexander Kosenkow: „So schnell wie möglich, so lange wie möglich“

An bereits vier Olympischen Sommerspielen hat er teilgenommen, als Begleitläufer auch an den Paralympischen Spielen im vergangenen Jahr in Tokio. Als Teil der 4x100-Meter-Nationalstaffeln war er viermaliger Vize-Europameister. Dann der doppelte Paukenschlag in der Altersklasse 45-Plus am 23. Juli bei einem Nationalen Sportfest im westfälischen Minden: Mit 10,75 Sekunden über 100 Meter setzte er das neue Maß aller Dinge in Europa. Und in 21,65 Sekunden über 200 Meter ist er der aktuell schnellste Mensch über 45 Jahre auf dem Planeten: Die Rede ist von Alexander Kosenkow. Für den Wattenscheider, Mitglied in der Sportfördergruppe der Bundeswehr, ist das Sprinten Lieblingshobby und hoheitlicher Auftrag zugleich.
David Deister

Jetzt ist es amtlich: Mit Ihrer 200-Meter-Leistung von 21,65 Sekunden sind Sie bei den 45-Jährigen und älter in dieser Disziplin unangefochten der schnellste Mensch der Welt.

Alexander Kosenkow:

Das fühlt sich richtig gut an. Auf diese außergewöhnliche Leistung bin ich stolz, zumal mit Willie Gault der bisherige Weltrekordhalter ein ehemals prominentes Mitglied einer US-Weltrekordstaffel war. Und doch sind derzeit meine Einzelleistungen „nur“ ein Nebenprodukt. Zuallererst bin ich Begleitläufer bzw. Guide von Marcel Böttger (DJK Blau-Weiß Annen), ein Athlet, der sehbehindert ist. Wir wollen uns für die Paralympics 2024 in Paris qualifizieren. 11,06 Sekunden stehen in dieser Saison für uns bereits zu Buche, damit zählen wir aktuell [in der entsprechenden Kategorie] zu den Top 6 in der Welt.

Ob in der Vereins- oder Nationalstaffel – bis zum Jahr 2019 war auf Sie immer Verlass, Sie gelten als „schnellster Kurvenläufer Europas“. Was fasziniert Sie am Sprint?

Alexander Kosenkow:

Es ist dieses schöne Gefühl, wenn ich technisch sauber laufe und es sich schnell anfühlt – und eine gewisse Freiheit. Im positiven Fall ist es beim direkten Wettstreit dieses besonders intensive „Gewonnen“-Glücksgefühl, das sich innerhalb einer Hundertstelsekunde beim Zieleinlauf im eigenen Inneren Bahn bricht.

Sprinter in Deutschland sein – ist das für Sie Hobby oder Arbeit?

Alexander Kosenkow:

Als Zeitsoldat und Mitglied in der Sportfördergruppe der Bundeswehr ist es mein Beruf. Und ich habe den Auftrag, den Job so gut wie möglich zu erledigen. Sprinten sieht so einfach aus – und ist doch höchst komplex. Klar: wenn ich erfolgreich bin, ist das auch emotional bedeutsam und macht Spaß.

Jahr für Jahr bringen Sie Leistung, größere Verletzungen blieben Ihnen erspart. Verglichen mit „früher“ – was trainieren Sie heute?

Alexander Kosenkow:

Das vielfältige und umfassendere Training ist kompakteren Kerneinheiten gewichen. Kraft- und Sprinttraining, Tempoläufe und Sprünge sind heute unverzichtbare Grundbausteine.

Stichwort Krafttraining – wie sieht Ihres aus?

Alexander Kosenkow:

Mehrere Einheiten Maximalkrafttraining in der Vorbereitungsphase reduzieren sich in der Saison auf eine Einheit pro Woche. Grundsätzlich investiere ich viel in Stabilisations- und Mobilisierungstraining. Beides kombiniere ich miteinander. Dreimal wöchentlich, etwa 30 Minuten vor einer Trainingseinheit. Im Wettkampf geht es unter anderem darum, gut aus dem Startblock zu kommen, auch in der Beschleunigung stabil im Rumpfbereich zu sein und fortwährend all die angepeilten Winkel zu realisieren und „oben zu sein“.

Gibt es da ein Geheimnis, ein besonderes Rezept?

Alexander Kosenkow:

Ausgewogenheit – das ist mir im Sport, aber auch außerhalb des Sports immer wichtig. Ich habe ein recht gutes Körpergefühl dafür: Was ist zu viel an Training, was zu wenig? Ich muss auch nicht alle zwei Tage zum Physiotherapeuten. Was Belastung und Entspannung angeht, so muss ich auch kopfmäßig damit klarkommen, wie ich für Ausgleich sorge und entspanne. Dann kann ich auch zwei, drei Wochen ohne Physiotermin auskommen. Seit acht Jahren trainiere ich mich selber. Ich trainiere nicht mehr so extrem, nicht mehr maximal. Wenn ich da übertreiben würde, bräuchte ich wieder mindestens eine Woche, um wieder auf das vorherige Niveau zu kommen.

Wer war Ihr Lehrmeister? Welcher Trainer hat Sie besonders geprägt?

Alexander Kosenkow:

Ronald Stein, als mein Vereinstrainer beim TV Wattenscheid 01. Mit ihm arbeitete ich etwa 20 Jahre zusammen, Zwölf Jahre im Verein. Und die letzten acht Jahre maßgeblich nach seinen Trainingsplänen. Ronald Stein ist ein Trainer mit besonderem Fingerspitzengefühl. Mit unserer Trainingsgruppe stellten wir die deutsche Sprinterspitze, trainierten auf höchstem Niveau. Fast jede Trainingseinheit hatte Wettkampfcharakter. Und: Sprinten ist eine Typ-Frage – für den Feinschliff sorgte der Trainer immer individuell. Entscheidend ist die Physis: Hast Du einen schwachen Körper, ist auch die Technik schlecht.

Welche Leistung war Ihr bis dato größter Erfolg?

Alexander Kosenkow:

Besonders geprägt haben mich drei Erfolge. Zwei davon bei den Deutschen Meisterschaften in Stuttgart 2001: Zwar wurde ich über 100 Meter „nur“ Zweiter, allerdings kam ich dort zum ersten Mal vor Marc Blume, der gefühlt damals zehnfacher Deutscher Meister war, ins Ziel. Dann die 200 Meter: Angereist mit 21,52 Sekunden, gewann ich den Titel in 20,64 Sekunden. Das war mein größter und krassester Leistungssprung überhaupt. Die Bedingungen waren top, ich hatte eine super Tagesform, alles passte: körperlich und psychisch war ich auf dem höchsten Level. Drittens waren da die Olympischen Spiele 2008 in Peking, wo wir als Nationalstaffel denkbar knapp eine Medaille verpassten und Vierte wurden – und das vor fast 80.000 Zuschauern im Stadion.

Mit 10,14 Sekunden über die 100 Meter haben Sie Ihre absolute Bestzeit aus 2003 stehen, da waren Sie 26 Jahre jung. Und jetzt, mit 45, sind Sie mit 10,75 Sekunden Weltspitze. Rein rechnerisch „verlieren“ Sie pro Jahr lediglich etwa 0,03 Sekunden – und das auf diesem Niveau.

Alexander Kosenkow:

Stabilität ist für mich das A und O. Stabilität hat mich immer ausgezeichnet. Mit 39 Jahren habe ich immerhin 10,22 Sekunden auf die Bahn gebracht. „Richtig abgebaut“ habe ich erst mit 40. Früher konnte ich mir für eine 10,75 einen lockeren Start erlauben und austrudeln lassen, jetzt muss ich für diese Zeit komplett durchziehen, von vorne bis hinten.

Und wie haben Sie zur Leichtathletik gefunden?

Alexander Kosenkow:

Schon in jungen Jahren wollte ich immer etwas erreichen, war für den Leistungssport wie geschaffenen. Entdeckt wurde ich als Achtjähriger. In meinem Geburtsort Tokmok in Kirgisistan, in der damaligen UdSSR, war es üblich, dass die Talentscouts verschiedener Sportarten durch die Schulen gingen. Mein Sportlehrer hat mich weiterempfohlen: Ich sei besonders geeignet für Weitsprung und Sprinten. Erst viel später, nach meiner Umsiedlung nach Steinfeld im niedersächsischen Landkreis Vechta, und nach meinem überraschenden Hallen-Jugendtitel über die 60 Meter im ersten A-Jugendjahr – wohlgemerkt als damaliger Weitspringer – konzentrierte ich mich schließlich auf den Kurzsprint.

Leichtathletik und der Sprint – ob solo, als Staffelläufer oder im Para-Sprint – das war und ist Ihr Leben. Wie stehen die Weichen für Ihre Zukunft?

Alexander Kosenkow:

Ich möchte weiterhin so schnell wie möglich laufen – und das so lange wie möglich. Parallel dazu mache ich gerade meinen A-Trainerschein, sitze momentan an der Hausarbeit und kann mir gut vorstellen, später als Trainer zu arbeiten. Womöglich im Behindertensportverband (DBS).

Indoor und Outdoor haben Sie rund um die immer neuen Europa- und Weltrekorde gemeinsam mit Jochen Gippert (TV Herkenrath) und dem Briten Dominic Bradley für die meisten Schlagzeilen in der M 45 gesorgt. Würde Sie ein deutsch-deutsches Duell oder besser noch ein direkter Dreikampf reizen?

Alexander Kosenkow:

Anstelle von Fernduellen mit unterschiedlichen Vor-Ort-Bedingungen ist ein nationaler oder internationaler Direktvergleich immer reizvoller. Das ist dann noch einmal etwas ganz Anderes, wenn man beispielsweise bei einem Turnier zunächst die Vor- und Zwischenläufe überstehen muss und dann im Finale nebeneinander an der Startlinie steht. Das Problem ist demgegenüber meine Prioritätensetzung in den kommenden beiden Jahren. Nochmals: Bei den Paralympics 2024 in Paris wollen Marcel und ich eine entscheidende Rolle im Endlauf spielen.

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