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Jonathan Hilbert dämpft Erwartungen: „Bin noch nicht bei 100 Prozent“

Vor einem halben Jahr schrieb Jonathan Hilbert sein eigenes Kapitel deutsche Geher-Geschichte: Er gewann überraschend olympisches Silber über 50 Kilometer. Ferner war es in Sapporo das vorerst letzte 50-Kilometer-Rennen in der Olympia-Geschichte. Die längste Strecke wurde gekürzt, auf 35 Kilometer. Erstmals im internationalen Wettkampf-Programm ist die neue Strecke bei der Team-WM in Muscat (Oman; 4./5. März). Jonathan Hilbert ist nominiert und dämpft die Erwartungen.
Sandra Arm

Es ist Sonntag – Ruhetag. In diesen Stunden begibt sich Jonathan Hilbert in den Freestyle-Modus. So gibt es ihm sein Trainingsplan vor. Sein Trainingssystem beruht auf einem Dreier-Block – drei Tage Training, ein Tag frei - zwei Tage Training, ein Tag frei. Jetzt wenige Tage vor dem Wettkampf sieht so ein Ruhetag bei ihm um einiges entspannter aus. „An diesem Tag ist der Körper der Chef. Man hört auf sein Körpergefühl und tut nur das, was sich für einen gut anfühlt. Ich habe mich für ein wenig Atemtraining, Mobilisation und Dehnung entschieden.“ Äußerlich wirkt Jonathan Hilbert locker und gelöst. Aber mit jedem Tag mehr wächst die Anspannung vor der Premiere.

Der Ausblick auf die neue Strecke ist bei den DLV-Gehern mit reichlich Fragezeichen versehen. Noch hat nämlich kein deutscher Athlet die 35 Kilometer vor der Team-WM bewältigt. Weltweit gab es vereinzelt Rennen über diese neue Strecke. Mit Sergey Kozhevnikov führt ein russischer Athlet die Weltjahresbestenliste in 2:27:16 Stunden an. „Ich sehe für mich den Wettkampf als Einstand zum Reinschnuppern. Des Weiteren will ich weitere Erfahrungen in einem internationalen Feld sammeln“, blickt Jonathan Hilbert voraus.

Wenn er spricht, schwingt auch eine gewisse Gelassenheit mit. Diese Ruhe hat er sich im vergangenen Sommer hart erarbeitet, als er die internationalen Normen für die Weltmeisterschaften in Eugene (USA; 15. bis 24. Juli) und die Heim-EM in München (15. bis 21. August) erfüllt hat. Demzufolge konzentriert er sich vollends auf den Sommer. Seine Vorbereitung, das Training – alles ist auf diese Höhepunkte ausgerichtet. „Mit meinem Heimtrainer Petro Zaslavskyy habe ich mich im November hingesetzt und die Ziele für 2022 abgesteckt. Im Sommer will ich in Topform sein“, betont der 26-Jährige, der nach einem wechselhaften wie emotionalen Vorjahr seine Schlüsse gezogen hat.

Langsamer Aufbau

„Im April war ich bei den Deutschen Meisterschaften super gut in Form und habe dabei etwas überzogen. Was mit dazu beigetragen hat, dass ich mich verletzt habe“ Ihn ereilte eine langwierige Verletzung mit der Diagnose: Knochenmarködem am Schambein, den Schambeinästen und Entzündungen an den Adduktoren-Ansätzen. Sein Traum von den Olympischen Spielen schien zu platzen. „Ich wusste bis zuletzt nicht, ob ich im Flieger nach Sapporo sitze.“ Doch er wollte nicht aufgeben. Die immense Hilfe seiner Familie, seiner Freundin, seines Arztes Dr. med Gerald Lutz, der Physiotherapie von Torsten Rocktäschel, seines Heimtrainers Petro Zaslavskyy sowie seiner Mentaltrainerin Julia Zanev haben den Traum ganz tief in ihm weiterleben lassen. Mit Erfolg.

Es war ein schmerzhafter, beschwerlicher wie aufschlussreicher Weg, der den „Thüringer Sportler des Jahres“ nun an einigen Stellschrauben hat drehen lassen. Eine betrifft die Vorbereitung. „Wir haben uns für einen langsamen Aufbau entschieden. Im ersten Trainingslager im November in Monte Gordo lag der Schwerpunkt auf der Ausdauer. Es folgte Balderschwang, wo ich semispezifisch mit Skilanglauf die Ausdauer trainiert habe. Im Januar auf Gran Canaria waren es Ausdauer und Kraft“, berichtet Jonathan Hilbert, der sich die letzten drei Wochen im südafrikanischen Potchefstroom auf die Team-WM vorbereitete.

Temperaturen um 30 Grad

Mit großen Erwartungen hält er sich vor seinen ersten 35 Kilometern bewusst zurück und dämpft etwas die Euphorie: „Ich merke, ich bin noch nicht zu 100 Prozent in Topform. In den vergangenen drei Monaten habe ich im Training die Grundlagen gelegt. Noch bis Juni werde ich dabei sein, die Grundlagen zu stabilisieren und zu verbessern. Ansonsten gibt es noch ein, zwei Akzente, was die Schnelligkeit betrifft.“ Zudem verlief der letzte Trainingsblock für ihn in Südafrika eher wechselhaft, behaftet mit ein, zwei Problemen. „Es ist nichts Gravierendes“, beruhigt er. Auf die  Nachfrage nach seiner langwierigen Verletzung gibt er Entwarnung: „Glücklicherweise habe ich keine Symptome mehr.“

Für die Geher ist die Team-WM der erste große Höhepunkt des Jahres. Hierbei zählt neben der Leistung jedes Einzelnen ebenso das Team. Fünf DLV-Geher sind über 35 Kilometer nominiert, die drei besten kommen in die Wertung. „Ich werde bis zum Umfallen kämpfen, alles rausholen und mein Bestes geben“, verspricht Jonathan Hilbert. Wenngleich die Temperaturen ohnehin einen „heißen“ Kampf versprechen. Erwartet werden zum Wettkampfstart (7 Uhr) um die 30 Grad. Dafür greift Jonathan Hilbert auf ein bewährtes Mittel aus Sapporo zurück. „Ich werde wieder meine Mütze und den Schal tragen.“

Anspruchsvolle Strecke

Das Streckenprofil ist die nächste Hürde auf dem Weg zu schnellen Zeiten. Es weist pro Zwei-Kilometer-Runde einen Höhenunterschied von 25 Metern auf. Hochgerechnet auf die Gesamtzahl der Runden sind das über 400 Höhenmeter – ungewöhnlich und anspruchsvoll.

Nach der Team-WM beginnt die Vorbereitung auf die weiteren Höhepunkte der Saison mit verschiedenen Trainingslagern in Portugal und Livigno. Die Aufenthalte in der Heimat nutzt er neben dem Training aber auch, um der neuen Aufmerksamkeit an seiner Person gerecht zu werden. „In den vergangenen Wochen habe ich Vorträge bei der Signal Iduna, der Commerzbank, in einer Grundschule und in Vereinen gehalten. Ich spreche darüber, wie ich meine ersten Olympischen Spiele erlebt habe, wie man Ziele erreichen kann und wie man mit Rückschlägen, Angst, Zweifel und Druck umgeht. Ich kann mir durchaus vorstellen, diesen Bereich weiter auszuweiten. Es sind noch ein paar Dinge geplant“, berichtet er von seinen neuen Aufgaben abseits des Geh-Sports. Er möchte mit seiner ganz persönlichen Geschichte genauso die Aufmerksamkeit der Trainer gewinnen, um sein Erlebtes an ihre Athleten weiterzugeben.

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