Er hat bis zuletzt gekämpft. Und das Ziel Heim-EM nicht aus den Augen verloren. Schließlich musste Johannes Vetter die Saison 2022 aber doch mit nur einem einzigen Wettkampf beenden. Die Auszeit hat der schmerzenden Schulter gutgetan. Jetzt nimmt der Speerwerfer wieder Fahrt auf für das große Ziel WM 2023 in Budapest. Mit neuer Achtsamkeit – und ungebremstem Ehrgeiz.
85,86 Meter. Beim ersten Wettkampf des Jahres. Nicht selten läutet im Speerwurf ein solcher Auftakt eine Saison ein, die aufs internationale Podest führt. Bei Johannes Vetter (LG Offenburg) war das 2022 anders – denn dieser Auftritt sollte sein letzter bleiben. Schon im Mai schmerzte die Schulter. Da biss er noch die Zähne zusammen und feuerte bei seinem Heim-Meeting einen Wurf ab, der ihm zum Saison-Ende einen Platz in den Top 15 der Welt bescherte. Doch dann ging gar nichts mehr.
„Ich habe wirklich alles probiert und wollte es eigentlich bis zuletzt nicht sehen, dass es mit der Heim-EM nichts wird“, blickt der 29-Jährige zurück auf schwierige Monate. „Die Leistung von Offenburg hat ja gezeigt, dass ich trotz der starken Schmerzen auf einem Niveau bin, das für Medaillen gut ist. Man kann mir nicht vorwerfen, dass ich nicht alles versucht habe.“
„Körper war noch nicht bereit“
Zum ersten Mal in seiner Karriere musste sich Johannes Vetter eingestehen, dass der pure Wille allein nicht ausreicht, um den Körper zu Spitzenleistungen zu treiben. Und das ausgerechnet in dem Jahr, in dem er nach der verpassten Olympia-Medaille von Tokio (Japan) noch einen draufpacken wollte. „Der Körper war noch nicht bereit. Vielleicht hätte ich mir auch ein paar Wochen mehr Saisonpause gönnen sollen“, stellt er fest und gibt zu: „Es war mental schwer.“
Allzu lang lässt sich der 90-Meter-Werfer aber nicht aufs Hadern ein. Das Positive sehen, die Chance in der Niederlage, den nächsten Schritt zum Erfolg – all das zählt zu den Stärken von Johannes Vetter. Und so verwundert es nicht, wenn er sagt: „Das Jahr 2022 ist für mich vor allem eines, in dem ich sehr, sehr viel gelernt habe.“ Zum Beispiel, dass der Körper in fortschreitendem Alter andere und mehr Regeneration benötigt. Dass er besser auf die Signale seines Körpers hören muss. Und eben auch, dass der Geist nicht auf Dauer Leistung erzwingen kann.
Mit dieser Erkenntnis konnte er sich schließlich im August auch aus der Ferne das EM-Finale von München ansehen und dabei mit der nötigen Distanz den Erfolg seines Disziplinkollegen Julian Weber (USC Mainz) anerkennen: „Julian hat das verdient gewonnen, er hat auch bis zum Ende der Saison gekämpft und sich verdientermaßen belohnt. Ich habe mich für Julian gefreut, weil er auch viele Jahre Verletzungspech gehabt hat.“
Einstieg fiel leichter
Die gute Nachricht: Mittlerweile hat Johannes Vetter mit seinem betreuenden Team einen Behandlungsweg gefunden, mit dem die Entzündung in der Schulter wieder im Griff ist. Darüber hinaus konnte keine schwere Verletzung nachgewiesen werden, die in Zukunft weite Würfe verhindern würde.
„So ein Sabbatjahr ohne krasse Wettkampf-Belastung kann im Hinblick auf die weiteren Jahre auch von Vorteil sein“, sagt der Weltmeister von 2017, und wieder spricht die Zuversicht aus ihm. Der Einstieg in das Aufbau-Training ist ihm schon mal leichter gefallen als im Jahr zuvor: „Das fühlt sich in jedem Fall schon ganz anders an!“ Und auch der Spaß ist wieder zurück.
Team-Stationen in Latsch und in Warendorf
Zum Auftakt gab’s zunächst ein Wiedersehen mit der Werfer-Familie bei der Teamwoche der Kader-Athletinnen und -Athleten in Latsch in Südtirol. Die Wochen bis zum Weihnachtsfest pendelt Johannes Vetter nun zwischen Offenburg und Warendorf, wo er als Mitglied der Sportfördergruppe der Bundeswehr und Stabsunteroffizier einen fünfwöchigen Lehrgang absolviert.
„Das passt perfekt rein“, sagt Johannes Vetter, „das Training ist ja zurzeit noch sehr unspezifisch, und da kann ich alle Dinge auch gut alleine machen. Mit Boris [Trainer Boris Obergföll] tausche ich mich regelmäßig zum Trainings- und Gesundheitszustand aus. Ich habe an der Sportschule der Bundeswehr in Warendorf alles, was ich brauche: Den Sportkomplex, super Physiotherapie, eine klasse Sportmedizin, die tolle Arbeit leistet. Und auch den Austausch mit Athleten der anderen Disziplinen und Sportarten.“
Die Seminararbeit zum Lehrgang bereitet ihm daher kein Kopfzerbrechen – weil er dafür gute Bekannte an seiner Seite weiß: Gemeinsam mit dem Vize-Weltmeister im Turnen Lukas Dauser und dem Olympia-Teilnehmer im Diskuswurf David Wrobel (VfB Stuttgart) wird Johannes Vetter das Werk in Angriff nehmen. „Da freue ich mich schon drauf, das harmoniert super!“
Keine Grenzen gesetzt
Anschließend ist der Blick wieder ganz auf die nächsten sportlichen Ziele gerichtet, mit der WM in Budapest (Ungarn; 19. bis 27. August) am Horizont. Wobei eines zunächst ganz oben auf der Wunschliste von Johannes Vetter steht: „Das Ziel ist es erstmal, gesund durchs Wintertraining zu kommen“, erklärt er. „Und wenn im April, Mai alles steht, dann sind keine Grenzen gesetzt!“
Wie gut die Schulter mitspielt, wird sich zeigen, wenn Schritt für Schritt die Belastung steigt und die spezifischen Wurfübungen in den Vordergrund rücken. Bisher ist Johannes Vetter guter Dinge. Und wenn’s in den nächsten dunklen Herbstwochen fern der Heimat doch mal hart wird, dann kann er sich immer noch eine Erinnerung vor Augen rufen: „2016 hatte ich im Herbst auch einen längeren Lehrgang bei der Bundeswehr, das war damals in Hannover. Und 2017 bin ich Weltmeister geworden.“