| Mein Moment 2016

Die 100-Meter-Finals in Tiflis: Ein emotionaler Spagat

leichtathletik.de war 2016 wieder bei zahlreichen Wettkämpfen live vor Ort und hat von großen Leistungen und den Geschichten am Rand der Kunststoffbahn berichtet. In der Kategorie "Mein Moment" schreiben unsere Reporter, welcher Augenblick der vergangenen Monate ihnen persönlich besonders in Erinnerung geblieben ist. Heute geht's um die 100-Meter-Finals der U18-EM in Tiflis (Georgien) und deren unglaubliches Emotionsspektrum.
Pamela Ruprecht

Am 15. Juli fieberte das deutsche Team den 100-Meter-Finals der U18-Europameisterschaften in Tiflis entgegen. Sowohl bei den Mädels als auch bei den Jungs traten DLV-Athleten mit Chancen auf den EM-Titel an – der erste seiner Art, der in dieser Altersklasse vergeben wurde. Was sich an diesem Abend dann abspielte, war eine Mischung aus purer Freude und großer Tragik.

Der Reihe nach: Vorlauf, Halbfinale, Finale. Keshia Kwadwo (TV Wattenscheid 01) schien schon vor dem Endlauf um 20:40 Uhr georgischer Zeit die sichere Siegerin. Die Favoritin, wie es so schön heißt. Die ersten beiden Vorläufe gewann sie souverän. Jetzt musste die 17-Jährige nur noch ein ähnlich gutes Rennen auf die Bahn bringen und die Goldmedaille würde ihr gehören. Doch ist das wirklich so einfach?

„Ich war vor dem Start total nervös“, erzählte Keshia Kwadwo (11,76 sec) nach dem Zieleinlauf. Aber der Lauf der jungen Deutschen strahlte einen derart starken Siegeswillen aus, dass nichts schiefgehen konnte. In einer Hundertstel-Entscheidung krönte sie sich vor Gina Akpe-Moses (Irland; 11,80 sec) zur U18-Europameisterin. Ihre Vorbereitung: „Ich war den Tag über viel allein und habe mich so mental auf das Rennen eingestellt.“

Schlag auf Schlag

Viel Zeit für das Interview und Sieger-Foto in der Mixed Zone war nicht. Es ging (wie immer eigentlich) Schlag auf Schlag. Mit einbrechender Dämmerung standen schon die Jungs an der Start-Linie, um ihren ersten U18-Europameister auszumachen. Und es standen gleich zwei im DLV-Trikot bereit: Marvin Schulte (SC DHfK Leipzig) und Milo Skupin-Alfa (LG Offenburg) wurden auf ihren Bahnen vorgestellt. Die Spannung stieg. Das DLV-Team hatte sich zum Anfeuern auf dem Dach des angrenzenden Mannschaftshotels versammelt.

Die Erwartungen waren riesig. Die beiden Sprinter waren mit den zwei schnellsten Zeiten ins Finale eingezogen. Ihre Team-Kollegin hatte mit Gold vorgelegt. Jetzt waren sie an der Reihe. Die Anspannung war spürbar. Das Startkommando nahte, während ich noch die Erfolgsmeldung von Keshia Kwadwo in meinen Laptop tippte, um vor Beginn der nächsten Entscheidung fertig zu sein.

Im Kopf hatten alle die Vorgeschichte: Die Leistungssteigerungen von Marvin Schulte, der von 10,69 (Vorlauf) über 10,60 Sekunden (Halbfinale) mit zwei persönlichen Bestmarken das Finale erreichte, und das fast historische Rennen von Milo Skupin-Alfa, der im Halbfinale extrem starke 10,43 Sekunden gerannt war. Schneller war seit 1999 kein deutscher U18-Athlet mehr gewesen, auch nicht Julian Reus (TV Wattenscheid 01). Kurz vor der Jahrtausendwende hatte der Kölner Tim Goebel mit 10,38 Sekunden die deutsche U18-Bestleistung aufgestellt.

Jubel und Trauer

Eine ganz schöne Ansage vor dem Finale. Die Stunden bis dahin wollten die Zimmerkollegen gar nicht allzu viel an das anstehende Rennen, das nun um 20:55 Uhr gestartet werden sollte, denken. Das Herz pochte, der Starter schickte die Talente auf die Strecke: „On your marks – Set!“ Und dann ging alles ganz schnell. Ich sah, wie Marvin Schulte auf Bahn drei aus dem Block schnellte und super in Tritt kam. Aber was war auf Bahn vier mit Milo Skupin-Alfa? Hatte man ihn nicht viel weiter vorne erwartet?

Im Ziel wurde klar, was passiert war. Milo Skupin-Alfa griff sich an den Oberschenkel und stürzte angeschlagen. Der Deutsche U16-Meister von 2014 hatte sich während des Finals verletzt und konnte sich nur noch als Vierter ins Ziel retten. Es hätte – nach dem Endlauf der U18-WM in Cali (Kolumbien) – das Rennen seiner bisherigen Karriere werden können. Aber stattdessen eilten medizinische Helfer herbei, während ich in die kleine Mixed Zone lief, um mit dem überraschenden Sieger zu sprechen.

Marvin Schulte hatte einen unglaublichen Lauf, locker und mit hohen Schritten stürmte er zu seiner dritten Bestzeit (10,56 sec) in Folge. Das Tempo nahm er zu einem langen Auslauf nach der Ziellinie mit. Bevor er zum richtigen Jubel ausholte, die Fäuste ballte und sein Glück kaum fassen konnte, drehte er sich nach seinem verletzten „Roomie“ um.

„Zwei Sieger“

Es herrschte eine Situation zweier Extreme: Milo Skupin-Alfa schien als Top-Favorit gerade eine einzigartige Chance schmerzhaft verpasst zu haben und war im wahrsten Sinne des Wortes am Boden zerstört. Marvin Schulte hingegen feierte seinen bislang größten Erfolg. Ich machte ein Jubel-Foto von ihm mit schwarz-rot-goldener Flagge und wollte erfahren, wie sich der neue U18-Europameister fühlt. „Das Halbfinale war schon Bombe und jetzt stehe ich hier mit der Deutschland-Fahne, das kann ich fast nicht glauben“, erzählte der Leipziger.

Nach der Entscheidung wurde es rasch ruhiger im schon dunklen Stadion, in dem gerade der Traum vom deutschen Medaillen-Doppelschlag zerplatzt war. Ich versuchte, das Ergebnis des abschließenden Wettkampfs des Tages auf allen Kanälen zu verbreiten. Mitten in diesem Moment der emotionalen Gegensätze, der nachwirkte.

Die richtigen Worte fand Sprint-Trainer Eik Rudatt am nächsten Tag bei der Mannschaftssitzung: „Es gibt zwei Sieger.“ Marvin Schulte, der den EM-Titel holte, und Milo Skupin-Alfa, der im Halbfinale eine  außergewöhnliche Zeit auf die Bahn gezaubert hatte. Der 17-Jährige selbst nahm es gefasst: „Shit happens, so lässt sich der Tag wohl am besten titulieren. Jetzt habe ich mich die ganze Saison auf die EM vorbereitet, komme als Erster in den Endlauf und verletze mich dann bei 60 Metern.“ Damit hatte wohl niemand geplant, aber es war bestimmt nicht sein letztes großes Rennen.

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