| Senioren

Thomas Stewens, der etwas andere „König der Athleten“

"Wenn man für etwas brennt, bleiben die Augen hell und das Leben macht einfach mehr Spaß." Mit dieser Einstellung schafft Thomas Stewens als fünffacher Familienvater, Bankvorstand, Trainer und Weltklasse-Zehnkämpfer einen bemerkenswerten Spagat – der dann irgendwie doch keiner ist, wenn man erfährt, wie für ihn alles im Einklang Teil seines ausgefüllten Alltags ist. Im Interview berichtet er von Sport als Familiensache, der Unterstützung seines Umfelds, dem Wert der Pausen und wie er sich im Alter von 55 Jahren endlich den Traum des Zehnkampf-Weltrekords erfüllen konnte.
Jörg Valentin

Thomas Stewens ist ein wahrer „König der Athleten“. Der passionierte Zehnkämpfer aus der Nähe von Frankfurt gehört zu den ganz Großen seines Sports. Mit 8.312 Punkten, erzielt im Rahmen eines Jedermann-Zehnkampfes in Bad Nauheim im Spätsommer, setzte sich der Mehrkämpfer vom SV Fun-Ball Dortelweil mit der neuen Weltrekord-Leistung in der Altersklasse M55 selbst die Krone auf.

Der fünffache Familienvater gilt als akribischer Autodidakt, der sich mit Trainingsfleiß und ausgeklügeltem Zeitmanagement auf seinen persönlichen sportlichen Leistungshöhepunkt katapultierte. Auf die Unterstützung von Familie und Trainerin Amaliya Sharoyan konnte sich der 55 Jahre alte Bankvorstand dabei immer verlassen. Voraussetzung für die Verbesserung des Weltrekordes waren eine Intensivierung des Athletiktrainings und eine Verbesserung der Beweglichkeit. Entscheidend, so skizziert sich Thomas Stewens selbst, sei dabei gewesen, dass es ihm gelänge vieles schnell, flexibel und komprimiert zu bewältigen.

Welche Persönlichkeit aber steckt wirklich hinter dem neuen Weltrekordler im Zehnkampf in der Altersklasse M55? Bei leichtathletik.de hat der Ausnahmesportler Thomas Stewens den etwas besonderen Blick hinter die eigenen Kulissen zugelassen.

Zehnkämpfer haben einen legendären Ruf. Sie gelten als die „Könige der Athleten". Thomas, Sie gehören zu den ganz Großen der Szene haben alles gewonnen, was es in der Masters-Leichtathletik zu gewinnen gab. Angefangen vom Titel des Deutschen Meisters über den des Europameisters bis hin zum Weltmeister-Titel und jetzt auch noch den Weltrekord in der AK 55. Gönnen Sie uns einen Einblick in Ihre Gefühlswelt.

Thomas Stewens:

Das sieht ja jeder anders, aber für mich persönlich hat der Zehnkampf tatsächlich eine magische Anziehungskraft. Und so war der Zehnkampf-Weltrekord für mich als Altersklassen-Sportler schon immer das Haupt-Ziel. Das hat mich motiviert, jahrelang intensiv und zunehmend klüger zu trainieren. Ironischerweise sind mir viele andere Rekorde und Titel auf diesem Weg quasi zugefallen, aber im Zehnkampf wollte es einfach nicht klappen. Das Unterfangen „Zehnkampf-Weltrekord" war viel schwieriger, als ich mir das vorgestellt habe. In der M45 und in der M50 hatte ich den Rekord knapp verfehlt und das hat mich noch mehr angetrieben, irgendwann dieses Ziel zu erreichen. Jetzt bin ich einfach sehr erleichtert und vor allem dankbar für meine Familie, meine Trainer und mein ganzes Umfeld, die diese ziemlich verrückte Leidenschaft von mir über so viele Jahre hinweg unterstützt haben.

Sie sind ein Familienmensch, haben fünf Kinder und einen ausgefüllten Beruf. Wie lässt sich eigentlich das zeitintensive Zehnkampf-Training damit in Einklang bringen? Muss man sich da nicht ständig um Kompromisse bemühen?

Thomas Stewens:

Familienmensch ist richtig, da ist die kleine Familie mit meiner amerikanischen Frau Bethann und unseren fünf Kindern, und dann gibt es noch unsere große internationale Familie mit acht Geschwistern und 26 Neffen mit engen Beziehungen und einem regen Austausch. Alle Schwager und Schwägerinnen sind ebenfalls sportverrückt, und so wird es bei uns in der großen Familie nie langweilig. Mein Patensohn Daniel hat gerade beispielsweise meinen Jahrzehnte alten Hausrekord auf den Pendling bei Kufstein um zwei Minuten unterboten. Was ich damit sagen will: Ich mache sehr viele Dinge gleichzeitig. Familientreffen heißt bei uns immer auch Sport.

In meinem Verein bin ich Athlet, Abteilungsleiter und Trainer unter anderem auch für meinen Sohn Konstantin, der gerade die Leichtathletik für sich entdeckt. Überhaupt ist es wichtig, starke Teams um sich zu haben, damit man selbst nicht immer so wichtig ist. In der Familie helfen zuhause alle mit und wir unterstützen uns gegenseitig bei Wettkämpfen, Vernissagen, Ausstellungen (zwei unserer Kinder Lena und Nicki sind Künstler). TJ, unser Ingenieur, hat gerade einen ausgeklügelten Haushaltsplan aufgestellt.

Auch im Beruf habe ich hochkompetente Kollegen, die mich gerne unterstützen, wenn ich mal mehr trainieren muss oder früher gehen will. Nach dem Training esse ich abends mit der Familie, das ist immer spät, weil meine Tochter Inga auch erst um 21:00 Uhr aus dem Training kommt. Danach sitze ich dann mit meiner Frau auf der Couch, bespreche den oft aufregenden Tag, mache Konzepte für Beruf und Sportverein und arbeite die Dinge nach, die ich während des Trainings verpasst habe. Mein Tag ist immer um Mitternacht zu Ende und beginnt um 07:00 Uhr, wieder mit dem gemeinsamen Frühstück.

Früher habe ich viel weniger Schlaf gebraucht, aber wenn ich hart trainiere, brauche ich heute diese sieben Stunden. Die Stunden dazwischen sind dann schon recht voll, aber das macht Spaß und stellt eine wechselseitige Erholung und Entspannung dar. Vor allem der Sport ermöglicht mir immer wieder mal Pausen, in welchen ich mich auf mich konzentrieren darf. In Familie und Beruf bin ich viel mehr „Dienstleister" und muss mich auf die anderen konzentrieren. Manchmal muss man natürlich auch Kompromisse eingehen, aber insgesamt sehe ich diese unterschiedlichen Felder eher als eine ideale Ergänzung.

Sie haben den Mehrkampf schon in der Aktiven-Klasse betrieben und ständig versucht, sich weiterzuentwickeln. Welche Trainingsphilosophien haben Sie sich als Grundlage genommen und können Sie Leichtathleten, die auch zum Mehrkampf tendieren, Empfehlungen geben?

Thomas Stewens:

Zehnkampf ist so vielfältig, dass man sich jeden Tag auf das Training freut und am liebsten gleich werfen, springen oder sprinten will (früher habe ich die Heizung im Auto aufgedreht, damit ich die Zeit beim Aufwärmen noch verkürzen konnte). Bei so viel Abwechslung kann es passieren, dass man die Pausen vernachlässigt und einfach zu viel trainiert – so habe ich als junger Mann sicherlich meine Potenziale nicht ganz ausgeschöpft.

Pausen sind ja viel mehr als die Zeit zwischen den Einheiten. Das ist die Zeit, die der Körper für die Anpassung der Systeme benötigt. Bei Einzeldisziplinen lässt sich das relativ vernünftig steuern, aber im Zehnkampf schickt man den Körper ständig in stark unterschiedliche Richtungen wie Ausdauer versus Schnelligkeit, Kraft versus Beweglichkeit, Explosivität versus Belastbarkeit. Im Alter wird die Steuerung noch schwieriger, da die Anpassungszeiten sich einfach verlängern. Bei manchen Trainingsreizen muss man auf einen 14-tägigen Rhythmus ausweichen, was natürlich zu Lasten des Trainingseffektes geht.

Deshalb muss man den Zehnkampf als Gesamtwerk verstehen und hier tatsächlich starke Kompromisse in Bezug auf die Einzelleistungen eingehen. Ich denke das ist vor allem durch die enge Zusammenarbeit mit meiner hervorragenden Trainerin Amaliya Sharoyan in den letzten beiden Jahren gut gelungen. Sie steuert und bremst mich, wenn ich wieder mal versuche, die Grenzen auszuloten.

Wie geht es sportlich für Sie weiter? Welche Ziele haben Sie sich für das Jahr 2022 gesteckt? Planen Sie einen Start bei den Senioren-Weltmeisterschaften in Finnland im kommenden Sommer?

Thomas Stewens:

Erstmal habe ich tatsächlich keine naheliegenden sportlichen Ziele für mich selbst. Jetzt müssen die Reserven des Körpers aufgetankt werden und Defizite krankengymnastisch ausgeglichen werden. Im Verein werde ich mich jetzt wieder stärker als Trainer einsetzen und meine Erfahrungen an die nächsten Generationen weitergeben. Als Fernziel würde ich gerne eines Tages den Standaler Hanse-Cup gewinnen. Stendal ist das Götzis des Altersklassen-Mehrkampfes und hier treffen sich die Weltmeister:innen und Weltrekordhalter:innen, um altersklassenübergreifend den und die beste Senioren-Mehrkämpfer:in zu ermitteln.

Sie haben Ihre Qualitäten nicht nur im Zehnkampf unter Beweis gestellt, sondern sind sogar Marathon gelaufen. Zehnkämpfer gelten normalerweise nicht unbedingt als Ausdauerspezialisten. Wie kam es zum Ausflug auf die 42,195 Kilometer?

Thomas Stewens:

Das war nach einer ziemlich langen Sport-Pause, als meine jüngeren Brüder Peter und Christian mich überredeten zum Joggen zu gehen und ich schon nach drei Kilometern völlig erschöpft war. Meine Brüder beschlossen, dass es so mit mir nicht weitergehen kann, und Peter hat uns Drei für den Frankfurt Marathon angemeldet. Die verbleibenden vier Monate haben wir uns wöchentlich getroffen und sind immer längere Strecken gelaufen.

Beim Frankfurt Marathon kamen wir zu spät und mussten uns dann hinten anstellen, was nur der erste Fehler war, und sind zu dritt im Regen, mit abfallenden Fußnägeln (wegen der aufgequollenen Baumwollsocken) in 3:36 Stunden Hand in Hand durchs Ziel gegangen. Das war hart, und die Schmerzen in Hüfte und Knie haben irgendwie die versprochenen Endorphine verdrängt, aber am Ende war es doch ein unvergessliches Erlebnis.

Werden Sie nicht manchmal beneidet um Ihre Fitness, Ihren gestählten Körper und Ihren frischen Geist? Gibt es Lebensweisheiten, die Sie diesen Menschen mit auf den Weg geben wollen?

Thomas Stewens:

Manchmal, kann schon sein, aber das ist sicherlich sehr unterschiedlich. Auf Social Media sieht das natürlich alles klasse aus, aber wenn der oder die Eine oder Andere mich morgens oder nach einem harten Training die Treppen runterkommen sieht, denkt er oder sie sicherlich: „So ein armer Kerl".

Aber im Ernst: Ich halte Toleranz und Offenheit für wichtig. Es ist doch viel angenehmer über andere Menschen nicht urteilen zu müssen. Jede Biographie ist einzigartig und ich freue mich, wenn Menschen ihre Leidenschaft finden und sich die Möglichkeit erarbeiten, diese zumindest in Teilbereichen zu leben. Wenn man für etwas brennt, bleiben die Augen hell und das Leben macht einfach mehr Spaß.

 

Bestleistungen als Aktiver/Hauptklasse von Thomas Stewens:

100 m: 11,27 sec | Weit: 7,10 m | Kugel: 13,86 m | Hochsprung: 2,00 m | 400 m: 49,37 sec | 110 m Hürden: 14,76 sec | Diskus: 42,40 m | Stabhochsprung: 4,80 m | Speer: 58,42 m | 1.500 m: 4:06,65 min (im Zehnkampf) | 1.000 m: 2:32,9 (im Fünfkampf) |  Marathon: 3:36 h / Ein-Stunden-Zehnkampf: 7.171e
 
Entwicklung Zehnkampf Thomas Stewens:

Aktiver/Hauptklasse Männer: 7.669e Punkte (w) (1996, St. Luis, USA, Thorpe-Cup)

M35 6.853e Punkte (2004, Aarhus, Dänemark, Senioren-EM)
M40 6.935e Punkte (2011, Viernheim, Deutschland, Hessische Meisterschaft Aktive)
M45 7.562e Punkte (2012, Zittau, Deutschland, Senioren-EM)
M50 8.068e Punkte (2018, Malaga, Spanien, WM)
M55 8.312e Punkte (2021, Bad Nauheim, Jedermann-Zehnkampf)
Teilen
#TrueAthletes – TrueTalk

Hier finden Sie alle Folgen des Podcasts des Deutschen Leichtathletik-Verbandes!

Zum Podcast
Jetzt Downloaden
DM-Tickets 2024