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Jackie Baumann will wieder auf die große Bühne

Der Stachel saß tief. Für Hürdenläuferin Jackie Baumann verlief das Olympia-Jahr nicht so, wie sie es sich zuvor selber ausgemalt hatte: EM-Aus im Vorlauf und auch in Rio konnte sie ihr wahres Potential nicht zeigen. Erst mit etwas Abstand reifte auch in der ehrgeizigen Athletin die Erkenntnis: Es war ein Jahr aus dem die 21-Jährige nur lernen konnte, denn eins weiß sie sicher: Von der großen Bühne hat sie noch lange nicht genug.
Alexandra Dersch

Sieben Wochen sind seit ihrem letzten Start im Jahr 2016 vergangen. Damals, am 15. August im Olympiastadion von Rio de Janeiro, blieb Jackie Baumann (LAV Stadtwerke Tübingen) im olympischen Vorlauf über 400 Meter Hürden fast drei Sekunden (59,04 sec) über ihrer Bestzeit von 56,19  Sekunden. Ein Lauf, den sie wohl damals getrost als „zum Vergessen“ tituliert hätte. Genau dieses, das Vergessen, das fiel ihr aber enorm schwer.

„Ich habe lange gebraucht, um diese Saison abzuhaken“, gibt Jackie Baumann unumwunden zu. Dabei war sie schnell wie nie in die Saison gestartet, hatte ihre Bestleistung gesteigert und das Ticket für Amsterdam (Niederlande) und auch Rio (Brasilien) gebucht. Aber dann fehlte die Stabilität und schlussendlich auch die Form.

Klar, mit dem Debüt bei Europameisterschaften und vor allem bei den Olympischen Spielen war ein Traum in Erfüllung gegangen. Aber die grundschnelle Athletin, die zudem über eine gute Ausdauerfähigkeit verfügt, ist genug Leistungssportlerin, um dem Anspruch einer bloßen Teilnahme entwachsen zu sein. „Zum Saisonhöhepunkt wollte ich meine beste Leistung bringen.“ Egal wofür es gereicht hätte, aber speziell die Zeit bei den Olympischen Spielen entsprach ihrem Ziel keinesfalls.

„Deutschland ist nicht genug“

Natürlich, man könnte sich jetzt auf ihre Jugend zurückziehen, ihr sagen, dass sie ruhig bleiben soll und mit 21 Jahren noch zu den Jüngsten in ihrer Disziplin gehört, dass die Rhythmisierung in einer anspruchsvollen Disziplin wie der ihren Zeit braucht („Ich hatte noch nie zwei völlig identische Rennen“) und dass in der Weltspitze nicht ohne Grund alle mindestens 25 Jahre und älter sind. Doch genau die ist es, wo Jackie Baumann hin will: in die Weltspitze. „Deutschland ist nicht mehr genug“, sagt sie und dieses Selbstverständnis ihres ehrgeizigen Charakters, den es braucht, um ganz nach oben zu kommen, offenbart gleichzeitig auch den nationalen Zustand.

In Deutschland ist die Tübingerin derzeit konkurrenzlos. Bei den Deutschen Meisterschaften in Kassel, wo die damals noch 20-Jährige ihren Titel erfolgreich verteidigte, nahm sie der Konkurrenz mindestens eine glatte Sekunde ab. Ein Zustand, der sich in den kommenden Jahren auch aus Sicht der Tübingerin gerne ändern kann. „Die Mädels können viel mehr, als sie bisher gezeigt haben“, sagt Jackie Baumann. „Ich hoffe, dass wir in Zukunft mit mehreren Hürdenläuferinnen zu internationalen Meisterschaften fahren können.“ Frei nach dem Motto: Auch Individualsportler sind im Team noch stärker.

Gedanken-Rucksack im Urlaub gelassen

Die Tage und Wochen nach ihrem Rennen bei den Olympischen Spielen kreiste der Kopf um immer die gleichen Fragen. Warum? Was war der Knackpunkt? Was lässt sich ändern? „Ich hatte großen Redebedarf.“ Erst im Urlaub in Italien fiel der Ballast ab. „Ich habe den Gedanken-Rucksack dort gelassen.“ Mitgenommen hat sie stattdessen viele kleine gedankliche Mosaiksteinchen, die in der kommenden Saison einen Leistungsabfall wie in diesem Sommer verhindern sollen.

„2016 – das war körperlich und mental extrem anstrengend“, sagt Jackie Baumann heute. Eine Anstrengung, die sie sich ein Stück weit auch selber aufgeladen hat, neigt sie von Natur aus doch eher zu einer Prise zu viel Ehrgeiz als ihrem Körper und auch Geist gut tun. „Ich weiß, ich muss daran arbeiten und verstehen, dass ich in diesem Jahr schon viel erreicht habe.“ Die fehlende Gelassenheit, der eigene hohe Erwartungsdruck, die teils auch zu hoch gesetzten Ziele – das abzustellen, wird nicht einfach. Aber die Erkenntnis über die kleinen Schwachstellen, aus denen unterm Strich und bei besonnener Dosierung soviel Gutes erwachsen kann, war der wohl so viel zitierte erste Schritt. Der Lernprozess, den sie im Sommer durchlaufen habe, sei ein schmerzhafter gewesen. „Aber aus Niederlagen lerne ich wohl mehr als aus Erfolgen.“

Masterplan für das kommende Jahr

Ihr Masterplan für das kommende Jahr, neben der eigens verordneten Portion mehr an Gelassenheit: Keine Hallensaison, stattdessen konzentriertes und kontinuierliches Grundlagentraining. „Da war ich im letzten Jahr nicht stringent genug.“ Auch die Abstände zwischen den Wettkämpfen sollen 2017 anders gewählt werden. „Im Sommer hatte ich oft zwei Wochen zwischen den Rennen.“ Nicht genug Zeit, um noch einen harten Trainingsblock einzuschieben. Aber zu lang, um sich wirklich erholen zu können. „Das hat mir schlussendlich die Form gekilled“, glaubt Jackie Baumann. Auch die Summe der Trainingslager wird steigen. Erst zwei Wochen Monte Gordo über Silvester, dann geht es Mitte Februar nach Südafrika und dann über Ostern nach Italien. Meist mit dabei ist ihre Familie. Kein Wunder, bei dieser geballten Sportaffinität im Hause Baumann.

Ihr Vater ist bekanntlich Olympiasieger Dieter Baumann, über den Jackie Baumann schon mehrfach sagte: „Ich schreibe meine eigene Geschichte.“ Ihre Mutter Isabelle hat auch schon ihren Vater trainiert und ist nun auch für den Trainingsplan ihrer Tochter verantwortlich. In enger Absprache mit Technik-Trainer Sven Rees, zu dem Jackie Baumann zweimal in der Woche nach Stuttgart fährt. „Der Austausch zwischen Sven und meiner Mutter funktioniert sehr gut“, sagt Jackie Baumann.

Rio hat Lust auf mehr geweckt

Dennoch: Auch in puncto Kommunikation soll sich im kommenden Jahr einiges verbessern. „Meine Mutter und ich sind so eng, dass wir gerade deshalb noch viel offener und mehr reden müssen. Das ist in einem so engen Verhältnis vielleicht noch schwerer als mit fremden Personen, aber dafür haben wir diese extreme Vertrauensbasis, die es wohl nur in Familien gibt.“

Denn eins steht für Jackie Baumann fast: Ihr Auftritt in Rio soll nicht der letzte bei Olympischen Spielen gewesen sein. „Ich will wieder auf die große Bühne“, sagt die Lehramtsstudentin für Geschichte und Sport. Auch wenn Rio im Ergebnis nicht ihren Erwartungen gerecht wurde, die Lust auf mehr hat der olympische Auftritt in jedem Fall geweckt. „Es hat so viel Spaß gemacht.“

Doppelte sportliche Chance nicht um jeden Preis

Das kommende Jahr bietet ihr erneut die Gelegenheit auf zwei Bühnen präsent zu sein. In Bydgoszcz (Polen) findet die U23-EM statt, vor zwei Jahren war Jackie Baumann dort Achte. „Da will ich auf jeden Fall ins Finale und da ist dann alles möglich.“ Und auch die Weltmeisterschaften in London (Großbritannien) sind durchaus ein Ziel. Allerdings keins, das sie auf Biegen und Brechen erreichen will. „Ich könnte es verstehen, wenn die Normen nach diesem Jahr wieder angezogen werden“, sagt Jackie Baumann, hofft aber, dass dies dennoch nicht der Fall sein wird.

„Wird die Norm verschärft, dann fehlen mir derzeit sieben Zehntel, da muss ich realistisch sein. Ich weiß, ich kann mich noch deutlich steigern, aber wie viel im nächsten Sommer schon drin ist, das mag ich nicht voraussagen.“ Sie sei Fan von einer weichen Norm, halte sie das doch besser für den Kopf. „Und Deutsche Meisterschaften als finale Qualifikation, das hätte doch auch etwas.“ So oder so, sie hat sich fest vorgenommen, sich bezüglich Normen im kommenden Jahr nicht verrückt zu machen. Als Teil ihrer neuen Gelassenheit sozusagen. Und im Vertrauen darauf, dass ihr dann die große Bühne erst recht offen steht.

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