Dem Schock folgt die Flucht nach vorn. Nach der vorläufigen Doping-Suspendierung des russischen Leichtathletik-Verbands kommen aus Moskau wohlklingende Versprechungen und Beschwichtigungen. Alles soll besser werden - aber wird es auch gut?
Nach dem Weckruf durch eine historische Strafe will die Sportgroßmacht Russland zügig Reformen einleiten und so den Bann für Olympia in Rio de Janeiro abwenden. Sommerspiele 2016 ohne russische Leichtathleten - erstmals seit dem Boykott 1984?
Mit diesen düsteren Gedanken wollen sich die Mächtigen in Moskau gar nicht erst befassen. Doch dann müssen den Worten schnell Taten folgen. Es kann nach den massiven Dopingverstößen im Riesenreich nur einen Rettungsanker geben: Aufklären und Aufräumen. Sonst droht in der olympischen Kernsportart ein „Rio ohne Russen“.
Die Chefs signalisieren Kompromissbereitschaft. „Das NOK Russlands ist bereit zu Reformern in Übereinstimmung mit den IAAF-Forderungen und der Anti-Doping-Gesetzgebung“, versicherte NOK-Präsident Alexander Schukow am Samstag. Dies müsse „durchgreifend und schnell erfolgen, um unseren Athleten die Olympia-Teilnahme zu ermöglichen“.
Kooperation statt Konfrontation
Auch Sportminister Witali Mutko machte klar, dass Moskau jetzt eher auf Kooperation statt Konfrontation setzt. „Ich bin sicher, dass es gelingt, die Situation bis zu Olympia zu klären. In der russischen Leichtathletik gibt es weder mehr noch weniger Probleme als im Rest der Welt“, sagte Mutko, der bereits Kontakt zum IAAF-Präsidenten aufgenommen hat.
„Ich habe heute mit Sebastian Coe über die weiteren Schritte im Anti-Doping-Kampf gesprochen und hoffe, dass binnen 90 Tagen unsere Mannschaft wieder alle Rechte besitzt. Belastete Funktionäre werden unseren Verband verlassen müssen“, sagte er am Samstag dem TV-Sender Rossija-1.
Das IAAF-Council hatte die Gesamtrussische Leichtathletik-Föderation (WFLA) am Freitagabend vorläufig aus dem Weltverband ausgeschlossen und damit auf die gravierenden Verletzungen des Anti-Doping-Codes der WADA reagiert.
Sperre sofort wirksam
Moskau darf nun bis auf weiteres keine Sportler zu internationalen Veranstaltungen mehr schicken. Das Verdikt hat eine historische Dimension: Noch nie hatte die IAAF einen nationalen Verband komplett suspendiert. Dass davon jetzt auch die „sauberen“ Athleten betroffen sind, hatte für kritische Reaktionen gesorgt.
Die Sperre tritt nach IAAF-Angaben unverzüglich in Kraft und ist zunächst unbefristet, so dass sie den möglichen Olympia-Bann einschließt. 22 Council-Mitglieder stimmten für den provisorischen Ausschluss, einer votierte dagegen. Der Russe Michail Butow, Council-Mitglied und WFLA-Generalsekretär, durfte nicht abstimmen.
Starke Botschaft
„Die Botschaft hätte nicht stärker sein können“, meinte IAAF-Chef Sebastian Coe. Der Weltverband habe die derzeit härtestmögliche Strafe gegen Russland verhängt. „Das war ein beschämender Weckruf, und wir sind uns einig, dass Betrug auf keiner Ebene toleriert werden wird.“
Um wieder in die IAAF aufgenommen zu werden, müsse „die neue Föderation eine Liste mit Kriterien erfüllen“, teilte die IAAF mit. In den kommenden Tagen werde der Weltverband ein vierköpfiges Inspektionsteam unter Leitung des Norwegers Rune Andersen einsetzen.
WFLA-Präsident Wadim Selitschenok schloss einen Gang vor den Internationalen Sportgerichtshof (CAS) nicht aus, falls die IAAF „keines unserer Argumente akzeptiert“. Da ein solcher Antrag aber eventuell erst nach den Olympischen Spielen in Rio verhandelt würde, sei es am besten, „jetzt einen vernünftigen Kompromiss zu finden“.
Yelena Isinbayeva ist schockiert
Weltklasse-Stabhochspringerin Yelena Isinbayeva zeigte sich enttäuscht von der IAAF-Entscheidung. „Ich bin schockiert“, sagte die Olympiasiegerin und Weltrekordlerin. Hochsprungtrainer Jewgeni Sagorulko nannte das Verdikt der IAAF übertrieben. „Hier wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen“, kritisierte der Coach.
Ebenso wie das IAAF-Council hätte auch Diskus-Olympiasieger Robert Harting für einen Ausschluss der Russen votiert. „Zum einen muss man Machtzentren zerschlagen; für (Präsident Wladimir) Putin wäre das höchst peinlich. Zum anderen kann man von Athleten verlangen, dass sie sich für einen fairen Wettkampf einsetzen und nicht blind hinter einer Flagge herlaufen“, sagte der 31 Jahre alte Berliner in einem Interview der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (Samstag).
Quelle: Deutsche Presse-Agentur (dpa)