WM in Peking (China), Hallen-EM in Prag (Tschechien), diverse internationale Nachwuchsmeisterschaften, nationale Titelkämpfe und Meetings. leichtathletik.de war 2015 erneut bei vielen Veranstaltungen live vor Ort. Dabei haben sich viele Ereignisse tief ins Gedächtnis eingeprägt. Stellvertretend blicken wir auf ausgewählte Momente zurück. Heute im Fokus: eine total erschöpfte, aber glückliche 800-Meter-Läuferin.
Es treffen Welten aufeinander, wenn sich Journalisten und Athleten am Zieleinlauf in der Mixed Zone begegnen. Von der Presse-Tribüne aus habe ich locker gejoggte 50 Meter hinter mir, meine anvisierte Interview-Partnerin Christina Hering dagegen zwei Stadionrunden in einem höllischen Tempo – Schauplatz sind die Deutschen Meisterschaften im Nürnberger Frankenstadion.
Die 21-Jährige hat im Sog ihrer Trainingskollegin Fabienne Kohlmann (LG Karstadt/Gambach/Lohr; 1:59,28 min) gerade zum ersten Mal die eiserne Zwei-Minuten-Marke über 800 Meter unterboten und sich damit einen Traum erfüllt: die erste Weltmeisterschaftsteilnahme ihrer jungen Karriere in Peking (China). Nun kämpft sie mit den Nachwirkungen des Rennens, in dem sie bis an ihr Limit gegangen war. Ja mehr noch: darüber hinaus.
Vollkommene Verausgabung
Die Münchnerin hat einfach alles gegeben. Was das heißt, ist für mich noch nie so sichtbar geworden wie unmittelbar nach dem DM-Finale. Christina Hering war so vollkommen erschöpft, dass sie nicht darüber sprechen konnte, was sie soeben geschafft hatte. Sie kämpfte mit Übelkeit, legte sich hin, setzte sich um und versuchte Luft und Position zu finden. Die anderen Läuferinnen wirkten ebenfalls angestrengt, doch keine so wie die neue Vize-Meisterin.
Zu gerne wollte ich erfahren, wie sie das Rennen erlebt hatte, wie anstrengend es gewesen sein muss, sah ich bereits. Sie deutete mir, dass es noch nicht ging und sie noch einen Moment brauche. Zum Durchatmen und sammeln. Okay. Ich stellte mich also etwas entfernt an und wartete. Die U23-EM-Dritte lag indessen total ausgepowert zwischen Helfern und Medienvertretern auf der Tartanfläche neben der Rundbahn.
Schnellstes DM-Rennen seit 1991
Das Ende des spannenden Laufs hatte ich noch im Kopf: Unter lautstarker Anfeuerung und tosendem Applaus kämpft sich Christina Hering die letzten 100 Meter in Richtung WM-Norm. Die Uhr lief gegen sie oder besser: die Athletin gegen die Uhr. Die Zeit durfte die Zwei-Minuten-Marke auf keinen Fall um mehr als ein Hundertstel überschreiten. Mit langen Schritten, rudernden Armen und einer enormen Willenskraft näherte sie sich im Windschatten von Fabienne Kohlmann Schritt für Schritt der Ziellinie.
Geschafft: DM-Silber mit 1:59,54 Minuten! Bevor die große Erschöpfung kam, hatte Christina Hering noch Energie genug zum Jubel mit ihrer Trainingspartnerin. Die beiden Erstplatzierten staunten über sich selbst. Sie hatten das schnellste 800-Meter-Rennen in der DM-Geschichte seit 1991 hingelegt. Und sie wussten in diesem Augenblick des Glücks, dass ihr Team-Work aufgegangen war und sie gemeinsam zu den Weltmeisterschaften reisen würden.
Noch immer warte ich auf ein kurzes Gespräch mit der neuen WM-Norm-Inhaberin. Die Siegerin, Fabienne Kohlmann, steht schon zum Fernseh-Interview bereit und beantwortet vorab Fragen. Es war bereits ihr dritter Lauf unter zwei Minuten innerhalb der Saison. Ihr Körper kennt diese Leistungssphäre bereits, während Christina Hering nochmal tief Luft holen muss. Für diese Worte: „Das ist Wahnsinn. Ich kann das noch gar nicht glauben.“
Pures Glück
Mit leuchtenden Augen berichtet die freudestrahlende Läuferin, dass ihr viele so eine Zeit zugetraut hätten. An Fabienne Kohlmann, mit der sie tagtäglich trainiert, habe sie sehen können, dass es möglich ist, in solche Bereiche zu laufen. Das hat ihr für den Norm-Angriff an diesem Nachmittag Selbstvertrauen gegeben.
Sie erzählt weiter, wie der Antritt ihrer Trainingskollegin zu Beginn der zweiten Runde ihr geholfen hat, das Tempo hoch zu halten. Die Deutsche Meisterin übernahm beim Schrillen der Glocke die Führung, nachdem Christina Hering die erste Runde aufs Tempo gedrückt hatte. „Das war so abgesprochen“, erklärt sie die gemeinsame Taktik. Denn der Abschnitt zwischen 400 und 600 Metern sei für sie besonders schwierig. Ab der letzten Kurve sei dann jeder für sich um den Titel gerannt.
Die zweifache Bronzemedaillengewinnerin der U20-EM von 2013 (400 und 800 m) hat nach weiterem harten Training den erlesenen Club der Unter-Zwei-Minuten-Läuferinnen erreicht. Die Geschichte über ihr Erlebnis sportlicher Höchstleistung, die ich in der Mixed Zone entgegen nahm, war bewegend. In diesen Momenten, in denen sich riesige Freude und Erschöpfung mischen, lässt sich nur erahnen, mit welcher bewundernswerten Hingabe die Athleten für ihre Ziele kämpfen.