| Olympia-Bilanz

National wie international: Das Jahr der 400 Meter Hürden

Die Finals über 400 Meter Hürden der Olympischen Spielen von Tokio sind mit zwei Fabel-Weltrekorden bereits jetzt in die Geschichtsbücher eingegangen. In anderen Dimensionen waren da die vier deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer unterwegs – und doch gelangen auch ihnen historische Erfolge. Sie sorgen für Optimismus in einer anspruchsvollen Disziplin, die in Deutschland eine lange Tradition hat und dennoch zuletzt ein Schattendasein fristete.
Silke Bernhart

Olympische Spiele 2021

Es waren Weltrekorde mit Ansage, die in der Deutlichkeit dennoch für Fassungslosigkeit sorgten: Karsten Warholm (Norwegen) und Sydney McLaughlin (USA) schraubten in der vergangenen Woche bei den Olympischen Spielen von Tokio ihre eigenen Rekordmarken um 76 beziehungsweise 44 Hundertstel nach unten und krönten sich zu Olympiasiegern über 400 Meter Hürden. Und das keineswegs ungefährdet, sondern mit fast ebenso schnellen Konkurrenten – Rai Benjamin und Dalilah Muhammad (beide USA) – auf ihren Fersen.

45,94 und 51,46 Sekunden. Jeweils Zeiten unterhalb einer Schallmauer, die noch zu Beginn des Jahres unerreichbar schien. „Ich war auf beide Rekorde vorbereitet“, bilanziert Bundestrainer Volker Beck, der im Männer-Rennen jedoch eher Rai Benjamin vorne erwartet hätte. „Ich war sicher, dass er den 13er Rhythmus über alle Hürden laufen kann – und das hat er ja dann auch gezeigt.“

„Außerhalb meiner Vorstellungskraft“

Noch schneller war allerdings Karsten Warholm. Der zweimalige Weltmeister mit der schier unbändigen Power konnte beim Blick auf die Anzeigetafel kaum seinen eigenen Augen trauen. Er sprach anschließend von einem „irren“ Rennen, einem Rennen, das nahezu perfekt war. „Dass es in diese Regionen geht, hat mich fast eine Stunde gelähmt“, gesteht der Olympiasieger von 1980 Volker Beck – der damals in 48,70 Sekunden Gold gewonnen hatte. „Diese Zeit war außerhalb meiner Vorstellungskraft.“

Außergewöhnliche Athleten in Top-Form. Eine optimal genutzte Corona-Pause. Neuartige Schuhe. Und ein neuartiger Boden der Firma Mondo, der unterhalb des oberen Belags mit kleinen Luftkammern für eine verbesserte Rückfederung sorgte. All diese Faktoren werden zu den Steigerungen beigetragen haben, die wie alle Rekordleistungen auch einen Restzweifel mit sich bringen und die Frage: Wie ist das möglich?

DLV-Athleten klopfen an das Tor zur Weltspitze

Unstrittig ist jedoch, dass es die Athletinnen und Athleten mit ihren herausragenden Leistungen geschafft haben, ihre Disziplin als Highlight der Olympischen Spiele ins Rampenlicht zu rücken. Und dieses Licht scheint auch auf die deutschen Olympia-Teilnehmer, die sich in Tokio so stark wie lange nicht präsentiert haben – wenngleich mit der Leistungsexplosion an der Weltspitze die nach und nach verkleinerte Lücke doch wieder etwas größer geworden ist.

Besonders in der Männer-Konkurrenz gelang den DLV-Athleten in einer Disziplin, die seit 2015 zu den Sorgenkindern der deutschen Leichtathletik zählte, ein historischer Erfolg: Erstmals seit 1972 in München standen mit Luke Campbell, Joshua Abuaku (beide Eintracht Frankfurt) und Constantin Preis (VfL Sindelfingen) wieder drei deutsche Athleten in einem olympischen Halbfinale!

Dort steigerte Luke Campbell seine Bestmarke auf 48,62 Sekunden. Er sorgte auf Rang elf für das beste deutsche Olympia-Abschneiden über 400 Meter Hürden seit 1992, als nur zwei Halbfinals ausgetragen wurden und Carsten Köhrbrück in 49,41 Sekunden Zehnter geworden war. Das Bemerkenswerte: Mit Constantin Preis (48,60 sec) und U23-Vize-Europameister Emil Agyekum (SCC Berlin; 48,96 sec) konnten in diesem Jahr zwei weitere DLV-Athleten erstmals die 49-Sekunden-Marke unterbieten. Olympia-Halbfinalist Joshua Abuaku (49,49 sec) fehlt nicht mehr viel.

„Sehr starke Gruppe“

Es ist eine Bilanz, die Bundestrainer Volker Beck stolz machen kann. „Es ist wieder ein Team zusammengewachsen“, stellt er fest, „in dem jeder trainingsmethodisch individuelle Wege geht, in dem wir uns aber intensiv abstimmen und in dem eine sehr gute Atmosphäre herrscht.“

Explizit bezieht der Coach von Campbell und Abuaku in die Erfolgsbilanz neben dem Kompetenzteam mit Mediziner Dr. Christoph Buck, Psychologin Colette Altwasser und Physiotherapeut Sascha Turek auch die jungen Heimtrainer Sebastian Marcard (Preis) und Sven Buggel (Agyekum) ein. Und zugleich den erfahrenen Werner Späth, der mit Carolina Krafzik in Sindelfingen eine Spätstarterin betreut, die seit zwei Jahren auf der Überholspur ist.

Carolina Krafzik komplettiert das starke Abschneiden der deutschen Hürdenläufer von Tokio – setzt ihm vielleicht sogar das i-Tüpfelchen auf. Denn kaum drei Jahre nach ihrem Umstieg von den Kurz- auf die Langhürden rannte die angehende Lehrerin erst im Vorlauf mit Bestzeit von 54,72 Sekunden ins Halbfinale. Und dann im Halbfinale mit der dritten 54er Zeit ihrer Karriere (54,96 sec) auf Platz zehn der Welt. „Caro ist der Umstieg sensationell gelungen“, sagt Volker Beck, „sie ist sicher längst noch nicht am Ende“.

Schnellste deutsche Zeiten seit 20 Jahren

Das Erfolgsrezept? „Wir haben in der Pandemie sehr konzentriert gearbeitet“, blickt Volker Beck zurück. Zwei Trainingslager in La Palma (Spanien) und zwei in Kienbaum sowie das Pre-Camp in Miyazaki (Japan) hätten den Weg zum guten Olympia-Abschneiden geebnet, das nebenbei sowohl bei Männern als auch bei Frauen die schnellsten deutschen Zeiten seit 20 Jahren mit sich brachte. Und die positive Entwicklung soll weitergehen.

Mit Jahrgang 1994 ist Luke Campbell der älteste der genannten Athletinnen und Athleten. Besonders Emil Agyekum (22) und Constantin Preis (23) stehen noch am Anfang ihrer Karriere. 2024 könnten sie in Paris (Frankreich) wieder Historisches schaffen: 1988 in Seoul (Südkorea) standen mit Harald Schmid und Edgar Itt letztmals deutsche 400-Meter-Hürden-Läufer in einem Olympia-Finale. In der Frauen-Konkurrenz liegen Platz fünf und acht von Heike Meissner und Silvia Rieger in Atlanta (USA) 25 Jahre zurück.

Physisch und technisch anspruchsvoll

Vielleicht motivieren die jüngsten Erfolge über 400 Meter Hürden ja auch andere Leichtathletik-Talente, sich der komplexen Disziplin zuzuwenden, die Athletinnen und Athleten sowohl physisch als auch technisch alles abverlangt. „Wir sind eine Alternativdisziplin“, stellt Volker Beck fest, „Athleten wollen diese Anstrengung oft nicht mehr auf sich nehmen. Die Umstellung ist schmerzhaft, aber Carolina Krafzik zeigt, wie schnell sie vollzogen sein kann. Den Weg gehen leider viel zu Wenige.“

Die neue Generation wird einen neuen Bundestrainer oder eine neue Bundestrainerin kennenlernen. Denn Volker Beck ist in diesem Jahr 65 geworden und wird im Frühjahr 2022 nach 31 Jahren seine Tätigkeit für den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) beenden. Er hinterlässt eine Disziplingruppe, die in der Spitze so stark ist wie seit Jahrzehnten nicht. Und eine, deren Geschicke er zumindest am Rande weiter gestalten will: „Wenn Luke und Joshua gesund bleiben, dann begleite ich ihren Weg bis 2024 gerne als Heimtrainer weiter.“

Olympische Spiele 2021

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