Marvin Schulte war bereits in der Jugend erfolgreich und durfte schon als 20-Jähriger in der WM-Staffel in Doha 2019 antreten. In Weinheim war der Leipziger, der noch der U23-Altersklasse angehört, nun zwei Mal deutlich schnellster Mann auf der Bahn. Dass er nun zu den Aktiven aufgeschlossen hat, hat mit dem Jahr 2020 und Usain Bolt zu tun.
Lauf eins, Bahn eins für den Deutschen Rekordhalter: Julian Reus (LC Top Team Thüringen) gewann bei der Kurpfalz Gala in Weinheim seinen Vorlauf klar in 10,33 Sekunden, wenn auch bei zu viel Rückenwind (+4,1 m/s). Eine erste Marke schien gesetzt – doch im nächsten Lauf stieg Marvin Schulte (SC DHfK Leipzig) in den Startblock.
Es sah unglaublich locker aus, wie der Leipziger die 100-Meter-Bahn nach dem Schuss heruntertrommelte. Bei gültigem Wind (+1,7 m/s) stoppte die Uhr für ihn nach 10,26 Sekunden. Im Finale lief er sogar 10,21 Sekunden (+1,0 m/s) und erzielte damit zwei Mal die deutlich schnellsten Zeiten des Tages – und Platz eins in der aktuellen Saisonbestenliste, sowohl in der U23 als auch bei den Aktiven.
„Ich mach' das alles schon echt lang. Seit ich acht bin. Als Kind habe ich immer davon geträumt, gegen Usain Bolt zu rennen. Das ist leider nicht mehr möglich. Aber es war immer ein Kindheitstraum und langsam gehen diese Träume in Erfüllung“, äußert er sich kurz nach dem Wettkampf sehr zufrieden mit seiner aktuellen Form.
Großer Anteil: Die Trainingsgruppe
Die Zeiten sind keine Ausreißer nach oben für Marvin Schulte. Doch die Stabilität der Zeiten, die ist neu – und sie kam auch nicht von heute auf morgen. Seine Trainingsgruppe hat einen großen Anteil daran.
Dem Team von Bundestrainer Ronald Stein und Co-Trainer Alexander John in Leipzig schloss er sich nach der Saison 2018 an. „Ich kam aus der U20 und musste mich in der neuen Gruppe erst beweisen. Da drückt dich erst mal jeder ein bisschen runter“, erzählt er lachend. „Das motiviert dich aber natürlich noch mehr.“
2019 lieferte er ab: Fünfter der U23-EM, Mitglied der WM-Staffel in Doha. Bei der U23-DM lief er Bestleistung (10,18 sec) und siegte in 10,12 Sekunden: „Das war schon ein Ausreißer, bei dem man wusste, es geht in die richtige Richtung, wenn auch die Zeit mit zu viel Wind war [+2,1 m/s]. Aber 10,18 Sekunden im Halbfinale – das hat schon Spaß gemacht.“ Die Steigerung kam auch bei den Trainingskollegen an: „Da haben sie dann auch gewusst: Okay, mit dem kann man sich anlegen.“
2020 als Lernjahr
2020 musste auch er seine Pläne anpassen: „Nachdem ich bei der WM 2019 in Doha in der Staffel antreten durfte, wollte ich dafür auch ein Jahr später wieder in Frage kommen. Aber als die EM in Paris und letztendlich auch die Olympischen Spiele abgesagt wurden, haben wir dann relativ schnell den Fokus auf Kraft, Athletik gesetzt und haben gesagt, wir konzentrieren uns auf die Startphase, die Beschleunigung.“
Die wenigen Wettkämpfe, die er in dieser Zeit mitnahm, liefen nicht gut. Das Problem: „Wenn man das Ding vorne gut anschiebt, dann läuft das automatisch, aber es war so, dass ich hinten relativ viel drauf gefallen bin, und meinen Schritt nicht mehr gefunden habe. Ich konnte den Fuß nicht schnell lösen. Das ist zum Problem geworden. Das war auch mental schwierig“, gibt er zu.
Doch Marvin Schulte schaffte es, die Ergebnisse unter „Erfahrung“ zu verbuchen und nicht weiter mit sich herumzuschleppen: „Im Endeffekt habe ich mir dann gesagt, 2020 zählt jetzt einfach nicht. Ich muss das als Training mitnehmen. Das haben wir dann den ganzen Sommer durchgezogen.“
Enge Freundschaft mit Kevin Kranz und Joshua Hartmann
Die Bestätigung für den Fokuswechsel gab es bei den diesjährigen Deutschen Hallenmeisterschaften in Dortmund. Im Sog von Kevin Kranz (6,52 sec) wurde Marvin Schulte Vierter in 6,64 Sekunden. „Das war ordentlich, das war auch ein starkes Finale mit Kev, muss ich sagen.“
„Kev“, Kevin Kranz (Sprintteam Wetzlar) und „Josh“, Joshua Hartmann (ASV Köln) zählt der Sprinter unter den Leichtathleten zu seinen engen Freunden: „Mit denen versteh ich mich extrem gut. Wir verbringen jedes Trainingslager zusammen. Wir sind schon U18-Staffel und U20-Staffel zusammengelaufen, und Josh und ich durften zusammen bei der WM in Doha in der Staffel laufen, das war für uns schon eine geile Erfahrung. Und man merkt, das schweißt uns immer mehr zusammen“, erzählt er. Das Saisonende von Kevin Kranz nimmt er hin: „Im sportlichen Sinne beeinflusst mich das nicht direkt. Es wäre allerdings schon extrem nice für die Staffel gewesen.“
„Sprint-Trainingslager schätze ich sehr"
Auch der Draht zu den Älteren ist gut, die er von einigen Trainingslagern kennt: „Julian, Roy, Micha, Patrick – die sind super. Aber bei uns Jüngeren ist das nochmal was anderes, spezielles. Wir sind andere Jahrgänge, etwa zehn Jahre jünger, das ist einfach eine andere Generation.“
Die Trainingslager spielen für den Leipziger eine wichtige Rolle: „Bei 26, 27 Grad trainieren können, jeden Tag gutes Wetter, das schätze ich extrem und das bringt mich auch in der Saison voran“, erzählt er. Bereits 2019 habe er sehr von drei Wochen Südafrika im Frühjahr profitiert. „Und das ist dieses Jahr ähnlich, das wiederholt sich ein bisschen.“
Trotz allem realistisch
So motiviert und fokussiert Marvin Schulte an den Start geht, so realistisch bleibt er in der Beurteilung seines aktuellen Leistungsvermögens: „Die Einzelqualifikation für die Olympischen Spiele liegt bei 10,05 Sekunden. Das ist nochmal etwas ganz Anderes. Ich bin noch in der U23, der Fokus liegt dieses Jahr auf der Olympia-Staffel“, sagt er.
Was die Zeiten angeht, so will er sich weiterhin im Bereich von 10,2 Sekunden stabilisieren, Ausreißer im Bereich von 10,1 natürlich nicht ausgeschlossen: „Ich wäre zufrieden, wenn ich in diesem Jahr etwa im Bereich von Deniz [Almas; PB von 2020 10,08 sec] von letztem Jahr laufe. Deshalb schauen wir einfach mal, wie sich das Jahr so entwickelt.“
Neue Reife
Dass er dieses Jahr wieder so locker auflaufen kann, liegt auch an den Erfahrungen aus dem letzten Jahr: „Ich hatte Zeit, alles ein bisschen Revue passieren lassen und habe für mich festgestellt: Man muss nicht alles zerdenken. Man muss runterfahren, einen kühlen Kopf bewahren und Bock haben zu rennen. Aber man darf halt nicht beim Rennen daran denken: Wie laufe ich jetzt technisch am besten? Das ist da völlig fehl am Platz. Das machst du im Training“, erklärt er. „Im Wettkampf geht es einfach nur darum, das Training im Wettkampf umzusetzen. Einfach das machen, was Alex sagt“, sagt er und lacht.
Es lässt sich nicht nur anhand der Zeiten erkennen, dass das Talent den nächsten Schritt gemacht hat. Er selbst sagt: „Ich bin extrem klar im Kopf geworden.“ Mit dieser Klarheit und der neuen Stabilität scheint Marvin Schulte im Spitzenkreis der nationalen Top-Sprinter angekommen zu sein.