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Alexandra Burghardt – Neuaufbau setzt endlich alle Kräfte frei

Einige junge Aufsteigerinnen und Aufsteiger, ein Außenseiter, aber auch Athletinnen und Athleten, die schon seit Jahren zur DLV-Spitze zählen, haben bei den Deutschen Meisterschaften in Braunschweig im zurückliegenden Sommer ihren ersten Titel auf nationaler Ebene gewonnen. Wir stellen sie vor, heute Sprinterin Alexandra Burghardt (LG Gendorf Wacker Burghausen).
Jan-Henner Reitze

Alexandra Burghardt
LG Gendorf Wacker Burghausen

Bestleistungen:

60 Meter: 7,19 sec (2017)
100 Meter: 11,01 sec (2021)
200 Meter: 23,00 sec (2021)

Erfolge:

Olympia-Fünfte 2021 (Staffel)
WM-Fünfte 2015 (Staffel)
Fünfte Hallen-EM 2017 (60 Meter)
Gold Staffel-WM 2017
Silber U23-EM 2015 (100 Meter)
U23-Europameisterin 2015 (Staffel)
U20-Europameisterin 2011 (Staffel)
Silber U20-WM 2012 (Staffel)
Vierte U18-WM 2011 (100 Meter Hürden)

Es ist ein märchenhafter Sommer, den Alexandra Burghardt hinter sich hat. Die Sprinterin galt immer als großes Talent. Die vergangenen Jahre waren aber geprägt von stagnierenden Leistungen, immer neuen Verletzungen, Zweifeln. Die Wende leitete ein Umstand ein, den wir alle wohl mit negativen Gedanken verbinden: Die Corona-Pandemie, die erstmals im Frühjahr 2020 quasi den Stecker aus unserer Alltagswelt zog.

Genau dieser Umstand war anscheinend nötig, um die 27-Jährige aus einem nicht enden wollenden Hamsterrad zu holen, das sie allein nicht als kontraproduktiv akzeptieren wollte. Über Jahre hatte sie immer wieder kurzfristig die nächste Saison, die nächste Norm, den nächsten Wettkampf vor Augen, für die es unbedingt fit zu werden galt. Alle Kraft wurde investiert, um irgendwie an der Startlinie stehen zu können. Das gelang auch. Nur war dann keine Kraft mehr für die eigentliche Aufgabe übrig: Ein schnelles Rennen auf die Bahn zu legen.

Das änderte sich mit der coronabedingten Olympiaverschiebung. Alexandra Burghardt entschloss sich, die „Late Season“ 2020 auszulassen und den Sommer statt mit 100-Meter-Rennen in der Crossfit-Box von Dominic Bilic in ihrem Heimatort Altötting in Bayern zu verbringen. Das Duo baute den seit Jahren rebellierenden Körper nochmal von Grund auf neu zusammen.

Das zahlte sich in der zurückliegenden Hallensaison langsam aus. Ab dem Trainingslager Ende April in Belek (Türkei) war erstmals seit Jahren wieder völlig problemfreies Training möglich. Befreit konnte sich auch endlich mentale Stärke ansammeln, was bei den Deutschen Meisterschaften in Braunschweig zu einer Leistungsexplosion führte. Beiden nationalen Sprinttiteln folgten die Bestzeit von 11,01 Sekunden über 100 Meter, die Bestätigung dieser Zeit im Olympia-Halbfinale (11,07 sec) und Platz fünf in Tokio (Japan) mit der DLV-Sprintstaffel. Und dieser märchenhafte Sommer soll erst der Anfang gewesen sein.

Sprinttalent führt nach Mannheim in Gruppe von Verena Sailer

Die in Töging am Inn aufgewachsene Bayerin begann im Alter von fünf Jahren im Verein Tennis zu spielen, war im Sprint aber in der Schule und bei den Bundesjugendspielen auch immer schneller als die Jungs in ihrer Klasse. So nahm sie mit neun Jahren beim SV Teising das Leichtathletik-Training auf. Der Verein gehörte zuerst noch zur LG Neumarkt Teising Mettenheim, später zum LAZ Inn.

Ihre Größe und das Wachstum waren zuerst eher eine Last. Die damalige Mehrkämpferin hatte früh mit Verletzungen zu tun. Auch deshalb konzentrierte sich das Training mehr und mehr auf die Sprintdisziplinen. „Wegen des Knies haben wir dann den Weitsprung weggelassen, wegen Fuß und Hüfte später die Hürden“, erzählt Alexandra Burghardt, die in ihrem ersten U18-Jahr mit 11,83 Sekunden über 100 Meter erstmals in der nationalen Spitze ihrer Altersklasse mitmischte.

Es folgten starke Nachwuchsjahre. 2011 mit dem vierten Platz bei der U18-WM 2011 in Lille  (Frankreich) über 100 Meter Hürden sowie Staffel-Gold bei der U20-EM in Tallinn (Estland) oder 2012 Staffel-Silber bei der U20-WM in Barcelona (Spanien). Nach dem Schulabschluss und einem Jahr bei der LG Stadtwerke München war klar, dass eine Karriere im Leistungssport angestrebt werden soll. Dieses Ziel verfolgte die damalige Nachwuchsathletin mit dem Anschluss an die Gruppe von Valerij Bauer bei der MTG Mannheim. Dies ermöglichte nicht nur gemeinsames Training mit der zu dieser Zeit besten DLV-Sprinterin Verena Sailer, sondern ließ sich auch noch mit dem inzwischen abgeschlossenen Bachelor-Studium im Fach Kultur und Wirtschaft verbinden.

Aufstieg gerät ins Stocken

Die weitere Entwicklung verlief zuerst vielversprechend. Neben vier deutschen Meistertiteln in Folge mit der starken 4x100-Meter-Staffel der MTG Mannheim gelang 2015 die Steigerung der Bestzeit auf 11,32 Sekunden, dazu Silber bei der U23-EM in Tallinn und Gold mit der Staffel. Das Jahr wurde zum Abschluss mit Staffel-Platz fünf bei der WM in Peking (China) gekrönt.

Einen schmerzhaften Beigeschmack – bei aller Professionalität – hatte es 2016 und 2017, bei Olympia in Rio de Janeiro (Brasilien) und der WM in London (Großbritannien) dabei zu sein, als Ersatz für die Staffel aber jeweils nicht zum Einsatz zu kommen. Trotz guter Ansätze über 60 Meter mit Bestzeit (7,19 sec) und Rang fünf bei der Hallen-EM in Belgrad (Serbien) blieben weitere Steigerungen über 100 Meter aus.

Zweifel am eingeschlagenen Weg und Unzufriedenheit wuchsen. Alexandra Burghardt stellte ihr vorgegebenes Trainingsprogramm in Frage, glaubte selbst am besten zu wissen, was ihr gut tat. Sie entschloss sich schließlich Ende 2018 in ihre bayrische Heimat zurückzukehren und fand bei der LG Gendorf Wacker Burghausen ein neues sportliches Zuhause. Die erhoffte Wende in Sachen Leistung wollte sich aber nicht einstellen. Auch noch nicht, als mit Patrick Saile ein neuer Trainer gefunden war und Anja Schreiner und deren Mentalcoaching-Team dabei zu helfen begannen, die oft impulsiven Emotionen zu kanalisieren. Der Körper erlaubte noch kein leistungsgerechtes Training.

Aufgestaute Energie kann endlich raus

Es brauchte noch die Corona-Pandemie, um endlich alle für Vollgas nötigen Schalter wieder umlegen zu können. Nachdem in der Vorbereitung auf die Hallensaison noch ein Bandabriss im Fuß das Training ausgebremst hatte und die Kniekehle Probleme machte, war der neu aufgebaute Körper ab April bereit, allen Belastungen standzuhalten. „Seitdem konnte ich wirklich alle Einheiten voll durchziehen“, erzählt die Olympia-Halbfinalistin, die gleich im ersten Wettkampf des Sommers in 11,31 und 11,29 Sekunden endlich wieder Bestzeiten rannte. „Das war ein sehr großer Stein, der mir im Magen lag, sechs Jahre lang hinter diesen Zeiten herzulaufen.“ Am Ende der Saison 2021 waren 15 ihrer 16 Rennen über 100 Meter schneller als die PB, mit der sie in den Sommer hineingegangen war.

Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten war endlich da. So falsch war es eben doch nicht, was Alexandra Burghardt jahrelang verfolgt hatte. Und insbesondere bei den Deutschen Meisterschaften fühlte sich das Gewinnen plötzlich leicht und irgendwie logisch an. „Man kann sich immer selbst sagen und einreden, dass man etwas drauf hat. In Braunschweig habe ich es gewusst.“ Dass beim 100-Meter-Titel in 11,14 Sekunden auch noch die Olympia-Norm fiel, vollendete die Erlösung. Der Triumph auch über 200 Meter steht dafür, dass im Training auch intensive Belastungen über längere Strecken möglich waren.     

Die Entschlossenheit und Körpersprache, mit der die 27-Jährige dann in Bulle (Schweiz) ihre Bestzeit auf 11,01 Sekunden drückte und bei den Olympischen Spielen in Tokio (Japan) mit den Besten der Welt um einen Platz im Finale sprintete,als sei das seit Jahren selbstverständlich, lässt vergessen, dass vor diesem Sommer wohl kaum jemand geglaubt hätte, dass 2021 die beste DLV-Sprinterin Alexandra Burghardt heißen würde.

Winterspiele und Heim-EM sollen auch 2022 unvergesslich machen   

Ihre Position an der umkämpften DLV-Sprintspitze der Frauen möchte die Athletin auch 2022 behaupten. Auf dem Weg dorthin steigt sie noch in eine ganz andere Sportart ein. Am Sonntag (28. November) steht ihre Premiere als Bobanschieberin im Weltcup bevor (wir berichten). Ein Start bei den Olympischen Winterspielen in Peking (China; 4. bis 20. Februar) ist angepeilt. Aber auch über die 60 Meter soll die Hallensaison nicht komplett ausfallen. „Ich trainiere meinen normalen Aufbauplan, so dass ich im Februar in Topform bin.“

Im Sommer will die Sprinterin, die weiterhin für die LG Gendorf Wacker Burghausen an den Start gehen wird, an ihre Leistungen dieses Jahres anknüpfen. Höchsten Stellenwert hat die EM in München, die quasi vor ihrer Haustür ausgetragen wird. „Ich möchte dort um die Medaillen mitlaufen. Ich kann mir vorstellen, dass man sogar mit einer Zeit unter elf Sekunden leer ausgehen wird. Ich möchte nicht diejenige sein. Natürlich ist auch die WM in Eugene ein wichtiges Ziel, bei der es wie in Tokio um den Finaleinzug gehen soll. Mit der Staffel ist nicht nur auf europäischer, sondern auch auf Weltebene eine Medaille möglich, wenn alle vier Mädels der DLV-Staffel in Topform sind.“

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Das sagt Bundestrainer Ronald Stein:

„In Alexandra hat immer Talent geschlummert. 2016 in Rio und 2017 in London war sie schon als Ersatz für die Staffel dabei. Danach hatte sie gesundheitliche Probleme und dadurch den Kaderstatus verloren. Insbesondere 2019 und 2020 musste sie sich durch viele Probleme und Verletzungen durchkämpfen. Andere hätten da vielleicht aufgegeben und sich anderen Dingen wie Beruf oder Familie gewidmet. Sie hat das nicht getan. Das zeigt ihre Einstellung zum Sport und ihren Ehrgeiz.

Die Entwicklung mit den deutschen Meistertiteln und ihrer 11,01 Sekunden über 100 Meter kam in dieser Wucht schon sehr überraschend. Sie hat sich von null auf hundert zurückgemeldet. Mit ihrem Heimtrainer Patrick Saile hat Alex einen guten Job gemacht. Sie ist verletzungsfrei durchgekommen. Auch bei den Olympischen Spielen mit 11,07 Sekunden und dem elften Platz insgesamt war es eine super Vorstellung. In der Staffel hat sie mich nicht überrascht. Alexandra ist seit Jahren eine sehr gute Staffelläuferin mit hoher Wechselfähigkeit und Ablaufgenauigkeit.

Ihre Stärke ist die Beschleunigung. Das hat sie schon immer gezeigt. Die Schwäche war in der Vergangenheit von 60 zu 100 Metern zu kommen, was Schrittlänge und Frequenz angeht. An diesem Knackpunkt hat sie gearbeitet und ist im fliegenden und Maximalbereich bei Topwerten angelangt. Von 11,32 auf 11,01 ist ein extremer Leistungssprung, aber wer ihr Talent kennt, ist am Ende nicht so überrascht. Überraschend ist, dass sie aus zwei Jahren, in denen gar nichts ging, so explodiert ist.“

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