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Christin Hussong: Schmerzhafte Erfahrungen bringen neue Kraft

Zum ersten Mal in ihrer Karriere hat Christin Hussong 2022 die Saison-Höhepunkte verpasst. Zum ersten Mal signalisierten ihr sowohl Körper als auch Geist: Es ist Zeit für eine Pause. Die Speerwerferin hat diese Pause für sich genutzt. Und ist im Oktober beschwerdefrei und glücklich in die Saison-Vorbereitung auf 2023 gestartet.
Silke Bernhart

„Mir geht es körperlich und physisch sehr gut“, sagt Christin Hussong (LAZ Zweibrücken). Und beantwortet damit schon zu Beginn eines Gesprächs während des Trainingslagers in Belek (Türkei) die zentrale Frage, die sich Leichtathletik-Fans am Ende der Saison stellen dürften, wenn die Sprache auf die Speerwurf-Europameisterin von 2018 fällt. Denn: Dass es ihr rundum gut geht, das war in den vergangenen Monaten lange nicht der Fall.

Um die Geschichte des Jahres 2022 von Christin Hussong zu erzählen, muss man eigentlich deutlich früher anfangen. Vielleicht schon im Jahr 2009, als die damals 15-Jährige mit Bronze bei der U18-DM ihre erste deutsche Medaille feierte. Oder 2010, als ihr erstes DM-Gold in der U18 folgte. Oder 2011 – als Christin Hussong mit herausragenden 59,74 Metern U18-Weltmeisterin wurde. Mehr als zehn Jahre liegen diese ersten Erfolge zurück. Und die Speerwerferin hat in all diesen Jahren keine einzige Saison verpasst.

„Keine einzige?!“ fragt man da tatsächlich ein wenig verblüfft. „Keine einzige!“ sagt Christin Hussong und lacht selbst fast ein wenig erstaunt. „Ich habe bis 2022 noch nie einen Wettkampf abgesagt!“ Allein das ist im Spitzensport eine bemerkenswerte Bilanz. Und mit zwei Olympia-Finals, den Plätzen vier und sechs bei Weltmeisterschaften, dem Europameistertitel 2018 in Berlin sowie dem Gesamtsieg 2021 in der Diamond League kann Christin Hussong im Alter von nunmehr 28 Jahren auch auf eine Liste bemerkenswerter sportlicher Erfolge zurückblicken.

Das Loch nach Tokio

Dass die vielen intensiven Jahre auch ihren Tribut zollen, das merkte Christin Hussong jedoch spätestens nach den Olympischen Spielen in Tokio (Japan). Besonders eindrucksvoll hatte während des EM-Pre-Camps in Erding Sprinterin Rebekka Haase (Sprintteam Wetzlar) in Mediengesprächen davon berichtet, wie Athletinnen und Athleten nach diesem Höhepunkt in ein Loch gefallen sind – weil sie sich vier, wegen Corona sogar fünf Jahre darauf vorbereitet hatten und im Anschluss plötzlich das eine große Ziel, der Sinn des täglichen Strebens weggefallen war.

Auch Christin Hussong ging das so. Bei ihr kam hinzu, dass sie – als Medaillenkandidatin gehandelt – im Finale ohne 60-Meter-Wurf mit Platz neun vorliebnehmen musste. Ein weiterer Dämpfer für die ehrgeizige und perfektionistische Athletin, nachdem es schon 2019 bei der WM in Doha (Katar) mit Platz vier knapp nicht zur ersehnten Medaille gereicht hatte.

Sturz beim Heim-Meeting bringt System ins Wanken

„Trotzdem verlief die Vorbereitung auf die neue Saison dann top“, blickt Christin Hussong zurück, „ich habe bei einem Meeting in Österreich direkt fast 65 Meter geworfen. Aber dann kam der Wettkampf in Zweibrücken, ich bin gestürzt, und damit hat alles angefangen.“

Christin Hussong unterlief bei ihrem Heim-Meeting am 11. Juni im Anlauf ein technischer Fehler, sie setzte den Stemmschritt zu kurz, konnte den Wurf nicht halten und stürzte. Mit Ausnahme einer Stauchung im Knie konnten die Ärzte keine schwerwiegende Verletzung feststellen. Aber es machten sich weitere Beschwerden bemerkbar, für die keine direkte Ursache gefunden wurde. Und die Sicherheit war dahin. „Ich kannte das gar nicht!“ erinnert sich die Speerwerferin, „ich bin noch nie gestürzt, ich musste noch nie eine Verletzungspause einlegen.“

Verzicht auf WM und EM

Zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass sie 2022 keinen einzigen Wettkampf mehr bestreiten würde. Erst sagte Christin Hussong die WM in Eugene (Oregon) ab, weil sie wusste, dass sie nicht in Top-Form anreisen kann. Und dann erkrankte sie an Corona. Die Symptome waren so stark, dass an Höchstleistungen wochenlang nicht zu denken war. Damit war auch der Traum von der EM-Titelverteidigung in München dahin.

„Das alles war zu viel für meinen Körper“, erklärt Christin Hussong. Und macht kein Geheimnis daraus, dass schwere und schmerzhafte Monate hinter ihr liegen, die auch ihre Familie und besonders Vater und Trainer Udo Hussong vor ungekannte Herausforderungen stellten. „Ich wollte mit niemandem sprechen, ich wäre nur in Tränen ausgebrochen.“ Während der Heim-EM fuhr sie in den Urlaub – alleine. „Mir das anzuschauen, das hätte mir im Herzen zu sehr wehgetan. Ich brauchte einfach Ruhe, kein Fernsehen, kaum Handy.“

Die Pause hat „sehr gut getan“

Wenn Christin Hussong heute über diese Zeit spricht, dann kann sie das wieder mit einem Lächeln tun. Denn die schwersten Tage, als das EM-Finale ohne sie stattfand, läuteten zugleich einen Wendepunkt ein. „Das Alleinsein war am Anfang ungewohnt. Aber ich kann es rückblickend nur jedem empfehlen. Man unterschätzt, wie gut es einem tut, wenn man einfach mal Zeit für sich hat. Und ich denke, ich werde sowas öfter mal einbauen.“

Die Zwangspause bot die Möglichkeit, sowohl Körper als auch Seele ausheilen zu lassen. „Sportlich gesehen war es für mich ein schwieriges Jahr. Aber ich habe mein Studium abgeschlossen, den Master im Gesundheitsmanagement, und ich habe auch sonst ein paar Meilensteine geschafft. Ich konnte einfach mal abschalten, ein normales Leben führen“, sagt Christin Hussong.

Mehr Gelassenheit

So ist Christin Hussong im Oktober ganz ohne Beschwerden und ohne mentalen Ballast in die Vorbereitung auf die Saison 2023 gestartet. Der Rückhalt im Team bei den Lehrgängen der Werfer in Südtirol und der DLV-Nationalmannschaft in Belek war für sie zusätzlich Balsam für die Seele – auch das entdeckte Christin Hussong nach der schweren Zeit neu für sich. „Je mehr man sich mit den anderen austauscht, umso mehr merkt man, dass doch irgendwie jeder sein Päckchen zu tragen hat und dass man ganz ähnliche Probleme mit sich herumschleppt.“

Sich Ziele setzen, hart dafür arbeiten, fokussiert die nächsten Wettkämpfe vorbereiten: All das wird Christin Hussong ganz sicher weiter auf ihrem Weg im Leistungssport begleiten. Dazugesellen soll sich aber auch eine Portion Gelassenheit – von der sich Außenstehende schon in Latsch und auch in Belek überzeugen konnten. „Ich möchte manche Dinge entspannter sehen. Und meinem Körper lieber einen Tag länger Ruhe geben, wenn es mal nicht so funktioniert. Weil ich weiß, dass man dabei nichts verpasst. Und wenn der Spaß da ist, dann kommen die Leistungen von ganz alleine.“

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