| Interview

Tatjana Schilling: „Ich habe ein Jahr auf den Weltrekord hingearbeitet“

© Kai Peters
75 deutsche Meistertitel, 16 Welt- und neun Europameistertitel gehen mittlerweile auf das Konto von Tatjana Schilling. Zuletzt glänzte die Athletin des TSV Korbach bei der Masters-EM in Pescara mit Siebenkampf-Weltrekord der W50. Im Interview spricht die 53-Jährige über ihre Rekorde, Ernährung und verrät, welche besondere Rolle ihre Tochter für ihre Leichtathletik-Karriere spielt.
Bettina Schardt

Tatjana Schilling, herzlichen Glückwunsch zum Weltrekord im Siebenkampf der W50 und zum Europameistertitel. Bis vor Kurzem gingen wir alle davon aus, dass der Weltrekord Maßarbeit war und Sie am Ende mit 6.165 Punkten genau einen Punkt besser waren als Barbara Gähling 2015 in Lyon. Mittlerweile haben wir nachgerechnet und wissen, dass Sie den Weltrekord um 51 Punkte verbessert haben. (Die WMA hatte die neuen Punkte bei Barbara Gähling falsch addiert.) Wie haben Sie die beiden Tage des Siebenkampfes in Pescara erlebt?

Tatjana Schilling:

Es war sehr schlechtes Wetter und sogar Unwetter für die Siebenkampf-Tage vorhergesagt. Mein Plan war, ich mache nach dem ersten Tag nur weiter, wenn ich den Weltrekord noch erreichen kann. Mir waren die 400 Meter, die danach kamen, sehr wichtig. Im Laufe des Siebenkampfes wäre eine weitere Option gewesen, die 800 Meter wegzulassen, wenn mein Vorsprung ausreicht, um den Titel zu holen. Ich wusste, dass ich in jeder Disziplin an meine Bestleistung herankommen muss, um eine Chance auf den Weltrekord zu haben. Es lief dann ganz gut, so dass ich immer in die nächste Disziplin rein bin. Ich habe während des Wettkampfes oft an Barbara Gähling gedacht, deren Rekord ich im Visier hatte. Sie ist eine solch großartige Athletin. Ich schätze sie sehr. 

Auch wenn Sie Regenwetter gar nicht mögen, schon bei der EM 2019 in Venetien hatten Sie den W45-Weltrekord im Regen und nach langer Gewitter-Unterbrechung mit einem beherzten 800-Meter-Rennen perfekt gemacht. 

Tatjana Schilling: 

Damals hatten wir wenigstens gutes Wetter am ersten Tag. Dieses Mal war den ganzen Wettkampf über schlechtes Wetter. Besonders der Hochsprung war sehr gefährlich. Die ganze Zeit war es sehr windig und sehr nass. Aber nicht so, dass ich keine Chance mehr hatte. Gerade die dritten Versuche mit Kugel und Speer waren gut. Ich wusste, was ich über 800 Meter rennen musste und bin es auf den Punkt gerannt. Trotz meines Asthmas, das sich über 800 Meter ungefähr ab 600 Meter massiv bemerkbar macht und bei Regen und Kühle deutlich schlimmer wird. Dass es doch noch gereicht hat, war für mich überwältigend. Darauf habe ich ein Jahr hingearbeitet. 

Wäre bei gutem Wetter noch mehr drin gewesen?

Tatjana Schilling:

Bei besserem Wetter hätte ich besser sein können. Ich sehe es im Training. Bei gutem Wetter ist die Tiefenmuskulatur richtig warm und ich bin spritziger. Auch habe ich weniger Probleme mit dem Asthma bei den 800 Metern. 

Sie sind auch in vielen Einzeldisziplinen Weltklasse. Fühlen Sie sich dennoch als Siebenkämpferin?

Tatjana Schilling:

Es ist schon ungewöhnlich, dass eine Siebenkämpferin die 400 Meter als Lieblingsdisziplin hat. Ich bin nach meiner schweren Knieverletzung 2015 (Kreuzband-, Meniskus- und Innenbandriss) von den 400 Meter Hürden auf die 400 Meter gewechselt. Im Siebenkampf macht für mich das Wort Kampf viel aus. Der Erfolg fängt im Kopf an. Abgerechnet wird zum Schluss. Der Siebenkampf fasziniert mich. 

Welchen sportlichen Werdegang hatten Sie in der Jugend und als junge Erwachsene? 

Tatjana Schilling: 

Als Kind habe ich geturnt, dann war ich zu groß und zu schwer, mit elf Jahren bin ich zur Leichtathletik gekommen. Eigentlich war ich in der Jugend Fechterin und dort erfolgreich. Doch meine Leidenschaft war der Fußball. Ich musste mich immer heimlich auf den Fußballplatz schleichen, um als Mädchen bei den Jungs mitzuspielen. Mit 19 Jahren bin ich durch einen Zufall zum TSV Battenberg gekommen. Nach zwei Jahren Oberliga (damals die zweithöchste Klasse) sind wir in die Bundesliga aufgestiegen und konnten uns dort zwei Jahre halten. Das war großartig. Nach fünf Bänderrissen in den Füßen habe ich irgendwann aufgehört. 

Wie sind Sie zur Leichtathletik zurückgekommen?

Tatjana Schilling:

Durch meine Tochter Alicia, sie hat als Kind Mehrkampf gemacht. Marion Tenbusch – damals eine andere Mutter, die ihr Kind ins Training gebracht hat, und heute immer noch meine Teamkollegin – und ich haben irgendwann gesagt, wir machen im Training mit. Als uns der Abteilungsleiter gefragt hat, ob wir einen Mehrkampf mitmachen wollen, haben wir „ja“ gesagt. Und so war ich Siebenkämpferin.

Wie sieht eine Trainingswoche bei Tatjana Schilling aus? Sie haben bei einem der DLV-Themenabende Ihr „Das-steht-in-keinem-Lehrbuch“-Training“ vorgestellt…

Tatjana Schilling:

Ich trainiere zwischen acht und zwölf Stunden pro Woche. Ich schaue, wie das Wetter wird, wie ich mich fühle. Dann wird es spontan geplant. Ob ich in die Halle fahre, auf die Bahn gehe oder ins Fitnessstudio. Einen Trainer habe ich nicht. Ich schreibe meine Trainingspläne selbst und trainiere in der Regel alleine.

Ich mache definitiv zwei Mal pro Woche Läufe. Oft entscheide ich nach dem Warmmachen, was wirklich im Training passiert. Ich trainiere keinen Weitsprung, keinen Hochsprung, kein Kugelstoßen. Das funktioniert seit meiner Knieverletzung nicht mehr gut im Training. Ich fange mein Laufprogramm mit einem 600er an, dann folgen 400er und 200er sowie Kurzsprints. Am Schluss noch Sprünge wie Einbeinsprünge, Hürdensprünge oder ähnliche. 

Das Besondere ist, dass ich immer am Limit laufe. 90 bis 100 Prozent, was gerade geht. Damit verfolge ich eine bestimmte Strategie, abgestimmt auf meine Ernährung. Dieses Mehr an Energie, das ich durch die Ernährung habe, kann ich nur im maximalen Bereich nutzen. 

Das klingt spannend, wie ernähren Sie sich? 

Tatjana Schilling:

Ich setzte auf ketogene Ernährung. Ich esse keine direkten Kohlenhydrate. Dadurch habe ich keine Entzündungswerte mehr im Körper. Die Muskulatur arbeitet besser und ich produziere nicht so viel Laktat. Das hat auch in Bezug auf die Wechseljahre großen Einfluss auf den Körper. 

Woher nehmen Sie gerade für die harten Einheiten die Motivation? 

Tatjana Schilling:

Ganz einfach – von meiner Stoppuhr. Wenn du läufst und siehst, welche Zeiten du läufst. Wenn du siehst, dass all das, was du machst, Früchte trägt, dann macht das etwas mit dir. Das macht mich unendlich stark. Ich habe im letzten Jahr unheimlich viel Negatives erlebt, das war sehr herausfordernd, der Sport hat mich aber so viel resilienter gemacht. 

Wie können Sie Training mit Beruf verbinden?

Tatjana Schilling:

Ich habe 32 Jahre bei einem Energieversorger gearbeitet, der auch mein Sponsor war und bei dem ich Gleitzeit arbeiten konnte. Jetzt bin ich gerade dabei, mich selbstständig zu machen als Personaltrainerin, Ernährungs- und Mentalcoach. Nur Titelsammeln kann nicht das Ziel sein. Ich möchte gerne meinen Erfolg, den ich schon hatte, transparent machen und andere daran teilhaben lassen. Es ist eine Herzensangelegenheit von mir, anderen dabei zu helfen, ihre Ziele auch zu erreichen. Aktuell mache ich gerade noch meinen Therapietrainer. Ich freue mich unheimlich drauf, dass es bald los geht. 

Zurück zu Ihrer Tochter Alicia – welche Rolle spielt sie in Ihrer Masters-Karriere?

Tatjana Schilling:

Alicia ist das Allerwichtigste für mich. Ich bin ihr unendlich dankbar, dass sie immer an meiner Seite ist und mich motiviert. Anfangs musste ich sie als alleinerziehende Mutter auf die Wettkämpfe mitnehmen. So ist sie ganz früh in die Senioren-Leichtathletik reingewachsen und fährt immer noch gerne mit zu Meisterschaften. Mittlerweile ist sie bei Wettkämpfen mein Coach, meine Stütze, mein Packesel. Seit März ist sie auch im DLV-Betreuerteam. 

Sie starten für den TSV Korbach und nehmen mit der Vereins-Mannschaft jedes Jahr am DAMM-Endkampf, der Team-DM, teil und laufen Vereins-Staffel. Was bedeutet diese Mannschaft, diese Staffel für Sie?

Tatjana Schilling:

Wir sind „nur“ vier Mastersathletinnen beim TSV Korbach und haben immer total Spaß. Die Mannschaft ist mir sehr sehr wichtig. Wir sind ein eingeschworenes Team und unterstützen uns gegenseitig. Es ist Gesetz, dass wir immer DAMM mitmachen. Und es ist vom Adrenalin her immer nochmal etwas ganz anderes, wenn man Staffel läuft. 

Welche Ziele haben Sie für die kommende Saison 2024?

Tatjana Schilling:

Ich habe noch keine wirklichen Ziele formuliert. Ich möchte zunächst meine Selbstständigkeit ins Laufen bringen und brauche noch einen neuen Sponsor. Der Weltrekord im Hallen-Fünfkampf ist tatsächlich ein Reiz, doch ob ich in Torun starten werde, ist noch offen.

Mehr:
Siebenkampf-Weltrekord durch Tatjana Schilling

 

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