Bei der DM in Erfurt haben sieben Athleten erstmals national ganz oben gestanden. Einige von ihnen gehören zu den "neuen Gesichtern" der Szene, andere belohnten sich dafür, dass sie trotz Rückschlägen weiter an sich glaubten. Einer der neuen Meister ist gleich bis an die Spitze der Welt durchmarschiert. Aus dieser bunten Mischung stellen wir heute den Hindernisläufer Tim Stegemann (LAC Erfurt) vor.
Tim Stegemann
LAC Erfurt
*4. August 1992
Größe: 1,81 m
Gewicht: 67 Kilo
3.000 Meter Hindernis
Bestleistung: 8:31,95 min (2017)
Erfolge:
Fünfter U20-EM 2011
Deutscher Meister 2017
Da kann man schon abergläubisch werden: Ausgerechnet in dem Jahr, in dem die Deutschen Meisterschaften erstmals wieder in seiner neuen Heimat Erfurt stattfanden, hat Tim Stegemann (LAC Erfurter) nach vielen Jahren mit Verletzungsproblemen sein Leistungspotenzial endlich abrufen können. „Als ich in der Vorbereitung auf den Sommer ins Steigerwaldstadion zum Training gegangen bin, hatte ich die Deutschen Meisterschaften immer vor Augen. Ich wusste: Dafür lohnt es sich zu arbeiten“, erzählt der Hindernisläufer. „Ich bin eben irgendwie ein Heimspiel-Typ.“
Und im kommenden Jahr winkt mit den Europameisterschaften in Berlin gleich das nächste Heimspiel, denn geboren und aufgewachsen ist der 25-Jährige in Berlin. Rechtzeitig zu den Höhepunkten in der Heimat geht es für ihn also aufwärts.
Lehrjahre hinter sich gelassen
Die Aussicht auf seine Heimspiele ist natürlich nicht die einzige Erklärung dafür, warum der Durchbruch auf nationaler Ebene gelungen ist. Hinter Tim Stegemann liegen sportlich schwierige Jahre, in denen er seinen Zielen hinterher gelaufen ist. Im Training wollten sein Ehrgeiz und sein Kopf dem offensichtlich überbelasteten Körper zeigen, dass die Einheiten und vorgegeben Zeiten möglich sind. Die erhofften Leistungen im Wettkampf stellten sich danach allerdings nicht ein.
Stattdessen bestimmten Verletzungen und Trainingsausfälle die Saisonbilanz. Nach einer Achillessehnenentzündung fielen unter anderem wegen eines Knochenmarködems im Jahr 2015 zweieinhalb Monate Training weg. Die Bestzeit aus dem Jahr 2012 (8:48,12 min) wollte einfach nicht mehr fallen. So konnte es nicht weitergehen. Ein Umdenken begann.
Geduld als schmerzlicher Lernprozess
„Ich versuche mich im Training nicht mehr durch meine Emotionen leiten zu lassen, sondern die Sache objektiv zu betrachten“, erzählt der Polizeimeister. „Es gibt auch Tage, an denen es mal nicht so läuft. Da versuche ich mich nicht von meinem Ehrgeiz fressen zu lassen. Der Schlüssel liegt in Kontinuität. Ich habe Geduld gelernt.“
Dieser Lerneffekt dauert immer noch an. 2016 lief es schon besser und Tim Stegemann konnte bis auf sechs Wochen sein Training durchziehen. Das Resultat war die ersehnte Steigerung seiner Bestzeit auf knapp unter 8:40 Minuten. In der vergangenen Saison lief es zwar immer noch nicht ganz ohne Ausfall, aber dennoch so gut wie nie zuvor. Mit 8:31,95 Minuten aus Rehlingen bestimmt nun eine Bestzeit die Saisonbilanz, die ihn in die erweiterte kontinentale Spitze bringt.
Hürdentechnik wird von Schwäche zur Stärke
Dass eine solche Leistungsentwicklung in ihm stecken könnte, hatte Tim Stegemann schon früh angedeutet. Obwohl er in seiner Kindheit Fußball spielte, gewann er parallel schon Waldläufe. Auch weil es mit dem Fußball nicht ganz so klappte wie erwünscht, meldete sich der damalige Siebtklässler bei seinem ersten Trainer Markus Liesicke beim VfV Spandau an und wurde als A-Schüler prompt Berliner Meister über 3.000 Meter. Dass die Qualifikation für die Deutschen Blockmeisterschaften wegen einer zu schlechten Zeit im Hürdensprint nicht gelang, ärgerte den damals 14-Jährigen so sehr, dass die Hürdentechnik binnen eines Jahres von seiner größten Schwäche zu einer Stärke wurde.
Und was macht man mit einem Berliner Landesmeister über 3.000 Meter, der gut Hürdenlaufen kann? Logisch. Man schickt ihn über die Hindernisse. "Die Hürdentechnik und der krafttechnische Aspekt faszinieren mich bis heute an dieser Disziplin", erzählt Tim Stegemann, der sich 2009 für die U18-WM qualifiziert hatte und sich spätestens seitdem Hoffnung auf eine Karriere im Leistungssport machte. 2011 gelang mit Rang fünf bei der U20-EM der bis dahin größte Erfolg.
Nach dem Realschulabschluss schloss er in Berlin eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann ab, interessierte sich aber gleichzeitig schon für die Arbeit bei der Polizei. Da sich für ihn in seiner Heimatstadt nicht die Möglichkeit bot, schloss sich Tim Stegemann 2013 der Sportfördergruppe Thüringen an und zog nach Erfurt. Damit verbunden war auch der Trainerwechsel zu Enrico Aßmus, der mittlerweile Bundestrainer ist. Auch wenn sich der sportliche Erfolg nicht sofort einstellte, wurde die Stadt mehr und mehr zum neuen Zuhause, das der Athlet nicht mehr missen will. In der abgelaufenen Saison ging es auch auf der Bahn zurück in die Erfolgsspur.
Martin Grau als starken Trainingspartner gewonnen
Die Bestzeit aus Rehlingen steht nicht nur für ein neues Leistungsniveau, sie war auch Eintrittskarte in das internationale Geschäft bei den Erwachsenen. Bei der Team-EM in Lille (Frankreich) erreichte Tim Stegemann Rang sechs. Krönender Abschluss seiner bisher besten Saison war der Heimsieg bei den Deutschen Meisterschaften in Erfurt. „Das war ein großartiger Moment. Aus der ganzen Saison nehme ich eine Menge Zufriedenheit, aber auch Motivation für die Zukunft mit“, sagt der nationale Titelträger, der sich im Steigerwaldstadion in einem hauchdünnen Finale quasi auf der Ziellinie um zwei Hundertstel an Martin Grau (LSC Höchstadt/Aisch) vorbeigeworfen hatte.
Diese Szene können die Beiden in diesem Winter im Training nachstellen, denn Martin Grau hat sich der Gruppe von Enrico Aßmus angeschlossen, zu der unter anderem auch noch der DM-Sechste über die Hindernisse Philipp Reinhardt (LC Jena) und der frühere Geher Marcel Lehmberg (LAC Erfurt) zählen.
„Wir alle profitieren voneinander“, erzählt Tim Stegemann, dessen Trainingsplan momentan noch von seiner Vollzeitarbeit bei der Landespolizei in Erfurt bestimmt wird. Um nach dem erfolgreichen Abschluss seiner Ausbildung die Lebenszeit-Verbeamtung zu bekommen, muss er insgesamt ein volles Jahr gearbeitet haben. In diesem Jahr absolviert er davon bis Mitte November elf Wochen und die Arbeit macht ihm Spaß. Danach rückt die Vorbereitung auf die Heim-EM ganz in den Mittelpunkt.
Aussicht auf Rückkehr an heimische Erfolgsstätte
Im Dezember steht fast schon traditionell ein Skitrainingslager in Balderschwang auf dem Programm, in dem viele Kilometer gemacht werden. Über den Jahreswechsel bis Mitte Januar geht es dann vom Schnee in die Sonne von Monte Gordo (Portugal), im März und April sind jeweils Höhentrainingslager in Flagstaff (USA) und Potchefstroom (Südafrika) geplant.
In dieser Zeit gilt es, möglichst mit noch weniger Ausfall durch das Trainingsjahr zu kommen als zuletzt. Weil Tim Stegemann aus der Erfahrung der Vergangenheit weiß, dass dies alles andere als selbstverständlich ist, spricht er seine Ziele im kommenden Sommer noch nicht allzu laut aus. „Aber wenn ich gesund durchkomme, warum sollte eine Zeit von 8:30 nicht fallen? Jeder Traum klingt verrückt, bevor er wahr wird. Ich traue es mir zu. Ich gehe in die Vorbereitung mit der Zielstellung, gesund zu bleiben.“
Und dann ist da ja noch der Faktor Heimvorteil. Das Berliner Olympiastadion liegt nicht nur vor der Haustür seines Elternhauses. Als 15-Jähriger hat er dort seinen einzigen nationalen Titel neben dem von Erfurt 2017 geholt: Als Deutscher B-Jugendmeister 2008 über 2.000 Meter Hindernis. Am Stadion-Mikrofon wurde Tim Stegemann damals auf den letzten Metern übrigens von seiner Schwester angefeuert. Zeit für eine Rückkehr.
Video: <link video:17164>Tim Stegemann "Einfach Wahnsinn"
Video-Historie: <link video:1905>Tim Stegemann gewinnt Titel bei U18-DM 2008
Das sagt Bundestrainer Enrico Aßmus: |
---|
Tim hat in den letzten zwei Jahren eine tolle Entwicklung vollzogen. Er hat sich 16 Sekunden über die 3.000 Meter Hindernis verbessert. Sicherlich war der Höhepunkt in der letzten Saison, vor heimischem Publikum in Erfurt den deutschen Meistertitel zu erringen. Er ist sehr ehrgeizig, aber unbenommen dessen auch ein lockerer, sympathischer Mensch. Tim hat immer ein Lächeln auf den Lippen. Trotz der Leistungsentwicklung der letzten beiden Jahre ist es noch nicht gelungen, stabil durch eine gesamte Saison zu kommen. Tim hat dieses Jahr seine Ausbildung bei der Thüringer Polizei erfolgreich abgeschlossen und kann sich jetzt voll auf den Leistungssport konzentrieren. Ich denke, dass ihm diese Fokussierung helfen wird, den Gesamtprozess noch besser auszusteuern und sich dadurch Stabilität organisieren kann. Wenn dies gelingt, kann er im nächsten Jahr erfolgreich an der EM teilnehmen. Das langfristige Ziel lautet Tokio 2020.