| Mittelstrecke

Timo Benitz unnachahmlicher Spurt

Die 1.500 Meter der Männer dürften das hochklassigste Lauffinale bei der DM in Ulm werden. Aufsteiger Timo Benitz trifft im Donaustadion nicht nur auf Top-Favorit Homiyu Tesfaye und den Regensburger Florian Orth, sondern auch auf sein Vorbild Carsten Schlangen. Ausgerechnet dem Berliner könnte der 22-Jährige den Weg zur EM in Zürich (Schweiz; 12. bis 17. August) verbauen.
Ewald Walker

Ein Leichtgewicht hat für einen Ruck in der deutschen Laufszene gesorgt. Timo Benitz (LG Nordschwarzwald), 59 Kilo-Lauffloh aus Volkertshausen am Bodensee, flog in den letzten Wochen wie ein Adler über die Kunststoffbahnen: mit weit ausgestreckten Armen und die Zeigefinger zum Sieg ausgestreckt. Mit einem Sturmlauf bezwang er zum Saisonauftakt in Pliezhausen über 1.000 Meter den WM-Fünften Homiyu Tesfaye (LG Eintracht Frankfurt) mit 2:16,90 Minuten. In Braunschweig überrannte der 22-Jährige über 800 Meter mit einem unnachahmlichen Spurt auf der Zielgeraden die europäische Konkurrenz und wurde Team-Europameister.

Sogar der neue französische Rekordler Pierre-Ambroise Bosse, der sich am Freitag in Monaco auf 1:42,53 Minuten verbesserte, war gegen den wie entfesselt spurtenden Deutschen als Vierter chancenlos. „Ich war auf den letzten 100 Meter in einem schwarzen Tunnel und weiß nichts mehr von meinem Sieg“, beschreibt Benitz den bisherigen Höhepunkt seiner jungen Karriere.  Zusammen mit Arne Gabius (LAV Stadtwerke Tübingen; 5.000 m) und Richard Ringer (VfB LC Friedrichshafen; 3.000 m) war Timo Benitz Teil eines „baden-württembergischen Laufwunders“: drei Läufer, drei Siege bei der Team-EM sowie der Gesamterfolg!

35-Stunden-Job bei Airbus

Timo Benitz hat frischen Wind in die deutsche Mittelstreckenszene gebracht. Dabei ist sein Studium der Luft- und Raumfahrttechnik an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Friedrichshafen kaum kombinierbar mit Hochleistungssport. Wöchentlich 35 Stunden arbeitet Benitz beim Flugzeughersteller Airbus in Ottobrunn bei München. Simulationen am Computer, Konstruktion und Tests von Bauteilen im Labor und Auswertungen von Messreihen gehören dazu. Abends nach halb elf schreibt er noch an seiner Bachelorarbeit. Da bleibt gerade noch Zeit für sieben bis acht Trainingseinheiten pro Woche. Die vorgeschriebene Studienzeit von drei Jahren lässt keinen Spielraum. Hochleistungssport im dualen System in Deutschland.

Für seinen weiteren sportlichen Aufschwung denkt er über einen Wechsel zum Masterstudium in Stuttgart oder Berlin nach. Für Stuttgart spräche die Nähe zu seinem Verein LG farbtex Nordschwarzwald und seinem Heimtrainer Jörg Müller. In Berlin könnte er sich seinem Vorbild Carsten Schlangen, Ex-Vize-Europameister, anschließen und diesen als Mentor gewinnen. 

Das könnte beim DM-Finale am Sonntag in Ulm zu einer kuriosen Situation führen: Während Timo Benitz schon die EM-Normen über seine Spezialstrecke und über 800 Meter (1:46,24 min bei der Team-EM) in der Tasche hat, läuft sein Vorbild Carsten Schlangen den geforderten 3.37,70 Minuten bislang hinterher. Acht Hundertstel schrammte der Berliner in Dessau an der Norm vorbei, während Benitz das Rennen in 3:34,94 Minuten gewann.

Titel-Poker

Da Florian Orth (LG Telis Finanz Regensburg) und Homiyu Tesfaye sogar noch schneller waren, könnte ausgerechnet Mittelstrecken-Aufsteiger Benitz dafür sorgen, dass Carsten Schlangen erstmals seit sieben Jahren wieder einen Saisonhöhepunkt verpasst. Würde sich Benitz allerdings für die 800 Meter bei der EM entscheiden – bisher hat außer ihm nur der Berliner Dennis Krüger die Norm unterboten – wächst Schlangens EM-Chance. Für die DM in Ulm ist Benitz jedenfalls für beide Strecken gemeldet. Der Titel-Poker ist eröffnet.

Die DM-Vorbereitung lief allerdings alles andere als optimal. „Nach der Team-EM hat die Achillessehne gezwickt“, berichtet der 22-Jährige, der Heiligabend Geburtstag feiert. Deshalb war die Team-EM auch sein letzter Start vor der DM in Ulm. Die Verletzung ist mittlerweile aber überwunden. „Es gibt nichts Schöneres als einen schmerzfreien Dauerlauf“, sagt Benitz. 80 bis 100 Kilometer wöchentlich und Tempoläufe auf harten Kunststoffbahnen gehen nicht spurlos am Körper vorbei.

Posaunenspieler

Das Lauf-Leichtgewicht ist bei allen Gedanken über einen Wechsel nach Stuttgart oder Berlin am Bodensee verwurzelt. Im Musikverein Volkertshausen spielt er die Zugposaune: bei einem Frühschoppen oder einem Konzert – mit Uniform und Mütze ist er in Aktion. Direkt vor seinem EM-Auftritt spielt er bei der Hochzeit eines Freundes nochmals Posaune. Im Letzigrund möchte er dann seinen Konkurrenten den Marsch blasen. Die EM wird ein Heimspiel. Gut 50 Freunde aus seiner Heimat haben bereits Tickets gehortet.

Sein großes Ziel geht noch weit über die EM hinaus: Er will schnellster weißer Läufer bei Olympischen Spielen werden. Dabei war Benitz vor der Saison nur den Insidern bekannt. „Mit seinem Kick auf den letzten 100 Meter kann Timo auch internationale Medaillen gewinnen“, sagt Bundestrainer Jens Boyde. Mit demselben Kick sind einst Dieter Baumann (1992) und Nils Schumann (2000) zum Olympiasieg gerannt.

Der Bundestrainer hält viel von Benitz. „Für einen Raumfahrtstudenten gibt es keine Grenzen“, sagt er. Timo Benitz will sportlich gesehen auf dem Boden bleiben. Vielleicht setzt er 2015 ein halbes Jahr im Studium für weitere Höhenflüge aus, um ein Quäntchen mehr aus seinem Körper herauszuholen.

Quelle: Leichtathletik - Fachzeitschrift

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