Diskuswurf: Deutsche Athletinnen auf dem Prüfstand
Von Gerhard Böttcher
Die Athletinnen
Nadine Müller wurde bei den Weltmeisterschaften in Berlin 2009 Sechste. 2010 warf sie sich mit 67,78 Meter an die Spitze der IAAF-Weltjahresbestenliste.
Shanice Craft ist eine der hoffnungsvollsten Nachwuchsathletinnen im Diskuswurf. Sie gewann bei den ersten Olympischen Jugendspielen in Singapur die Goldmedaille.
Nadine Müller


Kommentar zur Lehrbildreihe von Nadine Müller
Der Anschwung ist durch ein bewusstes Führen des Diskus auf einer weiten Umlaufbahn gekennzeichnet. Die Verlagerung des Körpergewichts müsste bei Nadine Müller jedoch noch akzentuierter auf dem rechten Bein gestaltet werden, um eine bessere Druckbereitschaft des rechten Beins zu erreichen. Die Gestaltung des Hochpunktes des Diskus im Umkehrpunkt (s. Bild 1) ist eine individuelle Lösungsvariante, die jedoch nicht weiter ausgeprägt werden sollte.
Nadine Müller nimmt im Drehbeginn eine deutliche „Rittmeisterstellung“ ein (s. Bild 2). Um die angestrebte Vorspannung noch besser aufzubauen, darf der rechte Fuß nicht zu zeitig mit eingedreht werden. In dieser Position wäre eine noch deutlichere Gewichtsverlagerung auf das linke Bein, bei gleichzeitigem, bewussten Zurückhalten des linken Arms vor dem linken Knie anzustreben. Dies könnte durch ein bewusstes Drücken des linken Knies über die linke Fußspitze erreicht werden. Das rechte Bein wird mittels der „Unterschenkelschleuder“ beschleunigt (s. Bild 3) und auf einer weiten Umlaufbahn um das linke Bein geführt. In der Umsprungphase werden durch das aktive und akzentuierte Lösen vom Boden mit dem linken Fuß, die Voraussetzungen für eine optimale Rhythmusgestaltung geschaffen. Hier sollte sich Nadine Müller bemühen, den Kniegelenkswinkel im linken Bein nicht so stark aufzulösen.
In Bild 5 ist ein „Wegknicken“ der linken Hüftseite zur Ringmitte zu erkennen, was ein noch besseres Überholen des Diskus mit der gesamten rechten Seite verhindert. In der Amortisationsphase setzt der rechte Fuß deutlich über der Ringmitte auf, danach arbeitet Nadine Müller sofort und ohne Absetzen der rechten Fußsohle auf der Ringoberfläche weiter. Daraus ist zu schließen, dass sie bereits in der Einbeinstützphase mit dem rechten Bein aktiv war. Dennoch sollte der Fußaufsatz etwas weiter in Richtung „fünf Uhr“ zeigen, um das Weiterarbeiten mit rechts noch frühzeitiger einzuleiten.
Die Hauptbeschleunigungsphase beginnt mit dem Setzen des linken Fußes. Bei Nadine Müller ist die Lage des Hochpunktes des Diskus ist sehr ausgeprägt, die Höhe jedoch überdenkenswert. Ein zu hohes Ausschwingen des Diskus kann ein „Durchschlagen“ des Gerätes im Abwurf zur Folge haben. Das Setzen des linken Beins erfolgt bewusst nahe dem rechten Bein (Wurfauslage), sollte jedoch noch etwas mehr nach links versetzt geschehen, um ein besseren Spannungsaufbau zu garantieren.
In den Bildern 10 und 11 ist das aktive „Aufreißen“ mit dem Kopf deutlich zu erkennen. Gleichzeitig zieht Nadine Müller den linken Unterarm an den Oberkörper heran. Das hat zur Folge, dass der Oberkörper durch den so genannten „Pirouetteneffekt“ zu schnell vorauseilt und somit den Spannungsaufbau beeinträchtigt. In der Abwurfvorbereitung (s. Bild 12) zeigt Nadine Müller eine gute technische Lösungsvariante. Der Diskus wird auf einer weiten Umlaufbahn geführt. Allerdings wird das sehr konsequente Blocken der Bewegung durch das zuvor eingeleitete Aufreißen mit dem Kopf behindert.
Im Abwurf zeigt Nadine Müller Reserven in Bezug auf die konsequente Arbeit der rechten Körperseite, die eine maximale Abwurfgeschwindigkeit bewirkt (s. Bilder 13 und 14). Während die Führung des Diskus auf einer langen Umlaufbahn vorbildlich fortgesetzt und dabei die rechte Schulter beispielgebend nach unten gedrückt wird, sind im Finale folgende Probleme zu sehen: Der Abwurf erfolgt hinter der Ringkante (s. Bild 13), was Wegverlust bedeutet. Die Arbeit des rechten Beins in Wurfrichtung könnte noch besser ausgeprägt sein und sollte für eine noch bessere Leistung weiter in horizontaler Richtung verlagert werden. Ein noch aktiveres Halten der linken Hüfte im Abwurf unter Vermeidung des Hüftknicks unterstützt diese Bestrebungen.
65-Meter-Wurf von Nadine Müller
Shanice Craft


Kommentar zur Lehrbildreihe von Shanice Craft
Im Anschwung könnte die Armführung etwas höher erfolgen. Die Gewichtsverlagerung auf das rechte Bein gelingt Shanice Craft gut. Eine deutlichere Ausprägung der "Rittmeisterstellung" als Grundlage für ein aktiveres Vorführen des Schwungbeines über die Ringmitte hinaus optimiert den Drehbeginn. In Bild 2 wird das Zurückhalten des linken Arms gut demonstriert. Allerdings eilt Shanice Craft in dieser Phase mit dem Kopf etwas in Wurfrichtung voraus. In Bild 4 zeigt sich ein ungenügender Tiefpunkt des Diskus. Insgesamt ist aber für die beiden Anfangsphasen festzustellen, dass Shanice Craft eine für diesen Ausbildungsabschnitt (Jugend B) beispielhafte technische Lösungsvariante zeigt.
In Bild 5 ist eine zu starke Streckung des Kniegelenks im linken Bein zu erkennen. Danach bemüht sich Shanice Craft, den linken Fuß aktiv zu lösen (s. Bild 6). Dies könnte im Sinne der Rhythmusgestaltung jedoch noch ausgeprägter geschehen. Das Schwungbein sollte Shanice Craft deutlich über die Ringmitte führen, um das Überholen des Diskus mit der Hüfte zu garantieren. Das Zurückführen des Schwungbeins entgegen der Wurfrichtung ist zu vermeiden. Nach dem Fußaufsatz rechts gelingt Shanice Craft das direkte Weiterarbeiten noch nicht ganz. Die Ferse setzt kurz ab, und beim Weiterdrehen mit dem rechten Fuß entsteht eine kurze Pause. Den linken Arm sollte Shanice Craft noch besser zurückhalten, um den Oberkörper über der Stützstelle zu halten. Die Lage des Hochpunktes (s. Bild 8) könnte deutlicher ausgeprägt sein. Die Ursache hierfür liegt jedoch in der beschriebenen ungenügenden Ausprägung des Tiefpunktes.
In der Hauptbeschleunigungsphase (s. Bilder 9 und 10) setzt Shanice Craft das linke Bein gut und schnell auf. Der Fuß könnte allerdings noch etwas mehr auf der gesamten Innenkante landen, um ein Aufdrehen des Oberkörpers und der Schulterachse in Wurfrichtung zu verhindern. Bild 9 zeigt, dass sie den Körper mit dem linken Arm „aufreißt“. Deshalb liegt der Körperschwerpunkt zwischen den Beinen, statt über dem rechten Bein. Das aktive Weiterarbeiten des rechten Beines, gekoppelt mit einem gezielten „Andrücken“ der gesamten rechten Körperseite auf einer bewusst angestrebten weiten Umlaufbahn (Radius) um die fixierte linke Seite, sind in Bild 10 sehr gut zu erkennen. Hiermit sind die Grundbedingungen für den Einsatz der Teilimpulse gegeben. Allerdings erfolgt auch bei Shanice Craft ein „Aufreißen“ durch das Bewegen des Kopfes in Wurfrichtung, was im weiteren Verlauf den Spannungsaufbau einschränkt.
In Bild 11 führt Shanice Craft den Einsatz der Teilimpulse folgerichtig fort. Der Wurfarm ist durch die rechte Hüfte sichtbar überholt, könnte jedoch noch weiter hinten gehalten werden. Die Umlaufbahn des Diskus ist gut ausgeprägt und trägt zur Verlängerung des Diskusweges bei. Allerdings setzt sich das beschriebene Phänomen der Kopfführung (Aufreißen) fort. Die linke Körperseite und das linke Knie stellen ein sehr gutes Widerlager gegen die Arbeit der rechten Seite dar und führen zu einem optimalen Bremsstoß der rotatorischen Bewegung.
Shanice Crafts erste Schritte auf dem Weg an die Weltspitze
In leichtathletiktraining 8/2010 werden die Lehrbildreihen der beiden Athletinnen (plus einer weiteren Bildreihe von Julia Fischer) noch ausführlicher vom ehemaligen DLV-Disziplintrainer Gerhard Böttcher kommentiert. Außerdem werden trainingsmethodische Forderungen für die einzelnen Bewegungsphasen genannt.