| Interview

Anke Rehlinger: „Die Leichtathletik ist ein tolles Spiegelbild für einen großen Teil unserer Gesellschaft“

Seit diesem Jahr ist Anke Rehlinger Ministerpräsidentin des Saarlandes. Vor ihrer politischen Karriere war die heute 46-Jährige lange Zeit leistungsorientiert in der Leichtathletik aktiv, nahm an Deutschen Meisterschaften teil und ist bis heute die saarländische Kugelstoß-Rekordhalterin. Im Interview mit leichtathletik.de spricht die SPD-Politikerin über ihre Leidenschaft zur Sportart, das Leichtathletik-Jahr 2022 aus deutscher Sicht, eine mögliche Bewerbung Deutschlands um die Olympischen Spiele 2036 sowie Verbesserungspotentiale in der Sportförderung von Kindern.
Nicolas Walter

Frau Rehlinger, das Jahr 2022 hatte für die Leichtathletik mit der WM und der EM gleich zwei Highlights zu bieten. Vor allem München hat die Menschen deutschlandweit begeistert. Verfolgen auch Sie regelmäßig das aktive Leichtathletik-Geschehen?

Anke Rehlinger:

Klar, ich fiebere immer mit, wenn ich die Gelegenheit dazu habe. Die hatte ich zuletzt bei den Wettkämpfen in München. Ich hatte das Glück, an dem Abend zuhause sein zu können, als wir die 100 Meter und im Zehnkampf gewonnen haben. Auch wenn es nur von der Couch aus war, war es ein großartiges Erlebnis.

Was viele nicht wissen: Sie haben selbst lange Zeit leistungsorientiert Leichtathletik betrieben. Wie sind Sie zur Sportart gekommen?

Anke Rehlinger:

Gestartet bin ich eigentlich mit Tischtennis und erst als ich auf die weiterführende Schule gegangen bin, bin ich über den Schulsport oder dort dann über "Jugend trainiert für Olympia" zur Leichtathletik gekommen. Es gab damals eine unfassbar engagierte Sportlehrerin an meiner Schule. Dank ihr hatten wir das große Glück, regelmäßig alle Landeswettbewerbe zu gewinnen, sodass ich damals jedes Jahr im Finale in Berlin dabei sein konnte und von dort aus den Weg in den Verein gefunden habe…

…wo Sie dann Ihr Talent in den Wurfdisziplinen entdeckt haben?

Anke Rehlinger:

Genau. Ich bin mit elf oder zwölf Jahren erstmal in der gesamten Breite gestartet und habe, wie es für das Alter üblich ist, auch Mehrkämpfe absolviert. Ich habe also nicht immer nur die schweren Geräte durch die Gegend geworfen, sondern bin auch gesprintet und gesprungen. Aber irgendwann wurde ersichtlich, dass im Gesamtleistungsgefüge Kugelstoßen und Diskuswerfen meine herausragenderen Disziplinen sind.

Sie haben es schließlich bis in die erweiterte nationale Spitze geschafft. Unter anderem wurden Sie 1997 bei den Deutschen Hallen-Meisterschaften in Dortmund Siebte. Astrid Kumbernuss, Kathrin Neimke und Nadine Kleinert waren zu dieser Zeit Ihre Konkurrentinnen. Inwiefern hatten Sie den Traum, vom Sport leben zu können?

Anke Rehlinger:

Nie so richtig. Ich hatte von den Trainingssituationen her das Glück, immer in der Lage zu sein, auf der einen Seite Schule und später das Studium gut mit dem von den Umfängen anspruchsvollen Leichtathletik-Training verbinden zu können. Ich habe in Saarbrücken studiert und am Olympiastützpunkt an der Hermann-Neuberger-Sportschule trainiert. Dadurch musste ich mich nie entscheiden und konnte immer beides auf gutem bis sehr gutem Niveau machen. Aber die Idee, dass ich jemals vom Sport leben könnte, hatte ich nicht wirklich.

Welchen Stellenwert hatte die Leichtathletik rückblickend damals in Ihrem Leben?

Anke Rehlinger:

Neben der Schule und später dem Studium war die Leichtathletik ein wesentlicher Teil meines Lebens. Ich hatte viele Freunde in der Leichtathletik, durfte viele Dinge und Orte erleben, zu denen ich sonst nicht gekommen wäre, und es hat mir viel Freude bereitet, zu trainieren und Wettkämpfe zu bestreiten. Insofern würde ich rückblickend sagen, dass der Sport eine Riesenrolle gespielt und mich auch als Persönlichkeit stark geprägt hat.

Wenn man Ihren Namen in Verbindung mit dem Wort "Leichtathletik" googelt, findet man schnell vor allem Berichte über Ihren 16,03 Meter-Stoß aus dem Jahr 1996. Das ist bis heute der Saarländische Rekord im Kugelstoßen. Inwiefern ist dieser Stoß noch in Ihren Gedanken verankert?

Anke Rehlinger:

Wenn ich körperlich in einigermaßen guter Verfassung wäre, hätte ich den Eindruck, dass ich ihn sofort wieder abrufen könnte (lacht). Den habe ich noch sehr gut in Erinnerung, auch vom Ablauf her. Ich habe die Kugel ideal getroffen. Das ist immer noch etwas, was einen positiven Gedanken bei mir auslöst, wenn ich daran denke. Aber es ist nicht so, dass ich jeden Tag daran denke, aber hin und wieder schon.

26 Jahre später sind sie saarländische Ministerpräsidentin und noch immer ab und an in der Leichtathletik aktiv. Erst kürzlich sind Sie bei der Team-DM der Senioren in Lage gestartet. Wie oft kommt man als Ministerpräsidentin noch zum Trainieren?

Anke Rehlinger:

Das war ehrlicherweise ein Kaltstart. Um genau zu sein habe ich in diesem und auch im letzten Jahr kein einziges Mal trainiert. Wir haben seit einigen Jahren einen Dauerkrisen-Zustand, der uns in politischer Verantwortung erheblich fordert. Da war leider keine Zeit dafür. Deswegen mache ich eigentlich auch immer nur bei Team-Wettbewerben mit, bei Einzelwettbewerben nicht mehr. In Lage hat es einfach Spaß gemacht, wieder etwas in der Mannschaft zu machen. Ich bin aber nur so leidlich zufrieden mit meiner Leistung. Ich musste feststellen, es gibt doch einen gewissen Zusammenhang zwischen Training und Leistung (lacht). Deshalb ist es wichtig, dass es in den Wettkämpfen nicht mehr um die pure Leistung und die Weiten geht, sondern vielmehr um das Drumherum und das ist im Team-Wettbewerb der Fall. Dort ist die Mannschaft der Star.

Sie sprechen den Zusammenhalt in der Leichtathletik an, also einen Wert, der auch für Gesellschaften von hoher Bedeutung ist. Welchen Stellenwert nimmt denn die Leichtathletik aus Ihrer Sicht in der Gesellschaft ein?

Anke Rehlinger:

Der Sport hat insgesamt eine ganz große Bedeutung. Ich glaube, viele Sportarten, aber die Leichtathletik besonders, stellen ein riesiges Spektrum dar. Vom Hindernislauf über das Diskuswerfen bis hin zum Sprinten. Und das vom Kindesalter bis in die W80 hinein. Auf der einen Seite ist es eine Individualsportart, aber auf der anderen Seite bewegt man sich in einer großen Gemeinschaft und hat deshalb auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Leichtathletik ist ein tolles Spiegelbild für einen großen Teil unserer Gesellschaft.

Und trotzdem ist die Leichtathletik leider oftmals nur dann im Fokus der Öffentlichkeit, wenn Großereignisse anstehen. Wie könnte man das aus Ihrer Sicht ändern?

Anke Rehlinger:

Bei der EM in München hat man gesehen, dass es nicht nur die Begeisterung von zuhause vor dem Fernseher gibt. Auch der Zuschauerzuspruch im Stadion war bemerkenswert. Die tolle Stimmung, die sich dann auch auf die Zuschauer am TV übertragen hat – das ist etwas, was eine Grundlage bietet. Mein Eindruck ist, dass in den letzten Jahren schon einiges gemacht wurde. Dass die Leichtathletik zum Beispiel, je nach Disziplin, aus dem Stadion rausgeht und einzelne Events in die Innenstädte verlagert, egal ob das der Hochsprung oder Stabhochsprung ist. Dort hinzugehen, wo sich Menschen für gewöhnlich bewegen, ist aus meiner Sicht ein guter Ansatz, um den Menschen auch zwischen den Großereignissen die Leichtathletik näher zu bringen.

Zuletzt gab es Höhen und Tiefen für die deutsche Leichtathletik. Die WM in den USA verlief sehr enttäuschend für das deutsche Team, bei der EM in München war die Nationalmannschaft in Topform und hat sogar Platz eins im Medaillenspiegel belegt. Wie würden Sie das Leichtathletik-Jahr 2022 aus deutscher Sicht einordnen?

Anke Rehlinger:

München war insgesamt ein tolles Sportfest. Für die Leichtathletik im Speziellen muss man sagen, dass die Ausbeute in Eugene sehr überschaubar war. Wir sollten München als Motivation sehen, wie sehr die Leichtathletik begeistern kann. Wir dürfen nicht den Anspruch verlieren, auch bei Weltmeisterschaften Medaillen in größerem Umfang gewinnen zu können. Darauf muss hingearbeitet werden. Am Ende müssen wir anspruchsvoll bleiben. Wir haben ein tolles Potential, tolle Talente und müssen alles dafür tun, dass dieses Talent auch auf der Weltebene ausgespielt werden kann.

Gleichzeitig hat das Jahr einmal mehr gezeigt, dass Leistungen im Spitzensport vor allem an Medaillen gemessen werden. Ist dies aus Ihrer Sicht heutzutage noch der richtige Maßstab?

Anke Rehlinger:

Sicherlich sollte nicht ausschließlich alles an den Medaillen gemessen werden. Aber ein Zieleinlauf und die Tatsache, dass man dabei vorne liegt, hat ein begeisterndes Element. Das kann man nicht in Abrede stellen. Auf der anderen Seite drückt ein Medaillenspiegel nun mal nicht alles aus. Da geht es auch um Fragen, was ein Athlet beispielsweise neben dem ambitionierten Training beruflich absolvieren muss. Das ist auf der Welt nun mal vollkommen unterschiedlich. Insofern kommt dem Sport neben dem Produzieren von Medaillen eine viel weitergehende Rolle zu – als gesellschaftlicher Kitt und als Möglichkeit, sich zu entfalten. Das sollte dringend, neben dem Zählen der Medaillen, in den öffentlichen Debatten eine stärkere Rolle einnehmen.

München hat auch die Debatte um die Austragung von Olympischen Spielen in Deutschland neu entfacht. 100 Jahre nach Berlin wird immer wieder 2036 als mögliches Jahr dafür genannt. Wie denken Sie darüber, sollte sich Deutschland für 2036 bewerben?

Anke Rehlinger:

Die European Championships haben in der Tat die riesige Begeisterung für große internationale Sport-Veranstaltungen in Deutschland gezeigt. Ich hoffe, dass die Olympischen Spiele 2024 in Paris diese Begeisterung ein Stück weitertragen. Es ist ein Großereignis in einem demokratischen Staat, einer freien Gesellschaft und dann auch noch so nah. Im Saarland sind wir in weniger als zwei Stunden mit dem Zug dort. Ich würde mir das sehr wünschen und fände auch den Gedanken an Olympische Spiele in Deutschland super spannend. Ehrlicherweise steht im Moment wegen der vielfachen Krisen und auch der enormen Belastung durch hohe Preise niemandem der Sinn so richtig danach, aber ich hoffe, dass uns München und hoffentlich auch Paris weitere Ermunterung geben wird, diesen Weg zu beschreiten.

Eine oft geäußerte Kritik am deutschen Sportsystem ist die, dass viele Sporttalente in der Schule verloren gehen, weil sie nicht entsprechend gefördert werden und die Leichtathletik kein fester Bestandteil im Lehrplan ist. Bildungspolitik ist in Deutschland Ländersache, sodass Ihnen hier eine hohe Entscheidungskompetenz zukommt. Wie würden Sie das aktuelle Schulsystem im Hinblick auf den Sport beschreiben und was kann getan werden, um Kinder für die Leichtathletik zu begeistern?

Anke Rehlinger:

Wie an meinem Beispiel gut zu sehen ist, ist der Schulsport eine ganz wichtige Möglichkeit, um Kinder überhaupt mit einer Sportart in Berührung zu bringen. Das Entscheidende ist meiner festen Überzeugung nach aber auch, wie man es hinbekommt, dass die Verzahnung zwischen Schule und Verein besser funktioniert. Denn die Schule wird, ob man eine weitere Sportstunde in der Schule einführt oder nicht, das alles allein niemals leisten können. Wir brauchen einen Übergang zu den vielen engagierten Vereinen, die wir haben. Und das auch stärker unter der Berücksichtigung, dass sich der Schulalltag an einigen Stellen deutlich geändert hat. Stichwort Ganztagsschulen. Die Frage, wann die Kinder nach Hause kommen und wann das Vereinstraining beginnt, muss mit den Schulzeiten abgestimmt sein. Außerdem müssen Vereine in den Schulen präsent sein. Ich glaube, wir müssen schauen, wie wir die geänderten schulischen Rahmenbedingungen mit unserer Vereinswelt ein Stück weit stärker vereinbaren können. Und wie in meinem Fall brauchen wir engagierte Sportlehrer, die sagen: ´Okay, da ist ein Talent, das muss gefördert werden.´

Gerade zu Beginn der Corona-Pandemie wurden durch den Lockdown Sport-Angebote stark reduziert bzw. gar nicht mehr angeboten. Auch für Kinder und Jugendliche bedeutete das ein deutlicher Bewegungsmangel, was wegen möglicher langfristiger Schäden in der Entwicklung der Kinder von Ärzten vielfach kritisiert wurde. Sind diese starken Einschränkungen im Sport im Nachhinein ein Fehler gewesen?

Anke Rehlinger:

Wir müssen den bisherigen Umgang mit der Pandemie kritisch auswerten. Schon deshalb, weil sie noch nicht zu Ende ist und wir schon wieder vor einem Herbst/Winter stehen, bei dem wir noch nicht genau wissen, inwiefern wir gefordert sein werden. Ich glaube, wir müssen insgesamt schauen, dass wir mit der Pandemie leben lernen. Dazu gehört auch die Frage, was man für sportliche Angebote wahrnehmen kann. Ich habe selbst einen 13-jährigen Sohn, er hat die ersten Schuljahre an der weiterführenden Schule pandemiebedingt nahezu ohne zusätzliche Angebote verbringen müssen. Das sind natürlich vertane Chancen, Kinder an den Sport heranzuführen und überhaupt herauszufinden, wo sie Talente haben. Deswegen müssen wir schnell wieder in einen Normalbetrieb kommen und sollten uns auch dringend vornehmen, diesen nicht nochmal so erheblich zu stören.

Es wird für den Sport im Saarland im Winter also keine größeren Einschränkungen im Winter geben?

Anke Rehlinger:

Ich habe keine Glaskugel, aber das ist unsere feste Absicht, ja.

Ein weiteres dominierendes Thema in der Gesellschaft ist die Energiekrise. Die steigenden Energiekosten belasten auch die Sportvereine in Deutschland stark. Was muss getan werden, damit Vereine nicht insolvent gehen?

Anke Rehlinger:

Wir müssen differenziert darauf schauen, welche Vereine welche Kostenstruktur haben und ob sie eigene Immobilien besitzen oder kommunale Immobilien nutzen. Der langfristige Ansatz wird sein, ins Gespräch zu kommen und zu schauen, wie Energie gespart werden kann. Beispielsweise durch Photovoltaik-Anlagen auf Vereinsheimen. Das ist der langfristige und nachhaltige Ansatz. Bis dahin müssen wir schauen, dass Vereine nicht in finanzielle Schieflage geraten. Dazu wollen wir prüfen, ob es Unterstützungsleistungen im Einzelnen bedarf, an welcher Stelle sie benötigt werden und welche Akutmöglichkeiten es gibt, damit der Unterstützungsbedarf nicht zu groß wird. Wir sind mit den Vereinen und Verbänden im Saarland dazu im Austausch.

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