Der ehemalige DLV-Präsident Helmut Digel hat die Hilflosigkeit der Dopingfahnder im Kampf gegen Sportbetrüger beklagt. Bezogen auf das Dopingproblem konnte man "nur kleine Erfolge erreichen", sagte der renommierte Sportwissenschaftler in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur.
Herr Professor Helmut Digel, über zwei Jahrzehnte lang haben Sie sich für die Leichtathletik engagiert. Sind Sie am Ende des Skandaljahrs 2015 froh, dass Sie jetzt Privatier sind und seit dem Sommer kein offizielles Amt mehr haben?
Helmut Digel:
Ja und nein. Einmal sind natürlich 20 Jahre ehrenamtliches Engagement in der nationalen und Welt-Leichtathletik genug. Das muss auch mal ein Ende haben. Aber es gibt natürlich auch Entzugserscheinungen. Und das merke ich jeden Morgen, wenn ich im Computer gleich nach Meldungen von der Leichtathletik suche. Ein Comeback als Funktionär wird es aber sicher nicht geben.
Was bleibt von der Leichtathletik – was wird aus der Sportart? Sind Sie frustriert, haben Sie resigniert?
Sie bleibt für mich eine äußerst interessante Sportart. Und ich habe sie auch wirklich lieben gelernt. Aber der Ausgangspunkt für mein Engagement war ja das Dopingproblem - deshalb wurde ich in diese Organisation als Außenseiter hineingeholt. Bezogen auf das Dopingproblem - das muss ich im Nachhinein sagen - konnte man national und international aber nur kleine Erfolge erreichen. Und aus der Sicht von heute muss man bilanzieren, dass der Anti-Doping-Kampf, wie ihn die IAAF bislang organisiert hat, gescheitert ist.
Kaum einer glaubt, dass Sie rein gar nichts von den Vorgängen im Weltverband gewusst haben, von Korruption, Doping, Seilschaften. Ex-Präsident Lamine Diack ist angeklagt. Sie haben als IAAF-Vize und im Council jahrelang eng an seiner Seite gearbeitet.
Helmut Digel:
In der Regel hält ein Betrüger seinen Betrug bewusst geheim. Ich kenne niemanden aus unserem Council, der Wissen von diesen Betrügereien unserer hauptamtlichen Mitarbeiter und - wie ja nun auch vermutet wird - unseres Präsidenten gehabt hat. Es ist für uns nach wie vor unvorstellbar, dass unser Präsident an dieser Sache beteiligt ist. Das ist ja der Gipfel des Betruges überhaupt: Denn auf diese Weise wird das ganze Anti-Doping-System ad absurdum geführt. Das ist für mich unbegreiflich - aber offensichtlich kann Geldgier einiges verändern. Bei Lamine Diack bedarf es nun endlich eines juristischen Verfahrens, um zu sehen: Ist er tatsächlich schuldig?
Auch Diacks Nachfolger Sebastian Coe ist umstritten. Enthüllungen von Dopingfahndern nannte er eine "Kriegserklärung". Wie sehen Sie seine Rolle als Reformer?
Helmut Digel:
Seine Wortwahl mit dem Begriff der "Kriegserklärung" war sicher ein Fehler. Ich habe mich auch gewundert, dass er sich gegen ein Anti-Doping-Gesetz ausspricht. Gerade angesichts der Skandale in der Welt-Leichtathletik müsste man eigentlich erkennen, wie hilfreich und wichtig die staatlichen Ermittlungen sind. Ansonsten gibt er sich große Mühe. Er ist sehr fleißig und versucht, Änderungen herbeizuführen, die die Leichtathletik dringend benötigt. Er hat richtige und wichtige Vorschläge gemacht. Aber jetzt muss Coe zeigen, dass er die Veränderungen auch wirklich durchsetzt. Und da ist bis jetzt zu wenig geschehen.
Russlands Leichtathletik steht nun im Fokus, andere Verbände sind noch im Schatten. Aufgeräumt wird wohl in Kenia, Italien. Auch in Jamaika? Was droht da noch?
Helmut Digel:
Jeder weiß ja, dass neben Russland noch weitere Nationen am Pranger stehen. Und da sind jetzt die WADA und die Ethikkommission der IAAF gefordert. Es muss auch transparent aufgezeigt werden, dass man die Fälle nicht unter den Tisch kehren möchte. Es gibt ja schon lange ein großes Dopingproblem in der türkischen Leichtathletik. Man weiß auch um die Dopingprobleme in der Ukraine und in Weißrussland. Kenia ist ein altes Problem und bedarf endlich einer systematischen Untersuchung.
Und Jamaika ist eine ferne Insel...
Helmut Digel:
... und ein sehr kleines Entwicklungsland. Dennoch: Ein Usain Bolt beispielsweise, der hat vergleichsweise genau so viele Dopingkontrollen im Jahr wie die deutschen Sprinter aufzuweisen. Ihm etwas anderes zu unterstellen, wäre einfach nicht berechtigt und teilweise sogar bösartig. Aber das Problem ist ja nicht die Zahl der Kontrollen, sondern dass Athleten mit ihren medizinischen Stäben in der Lage sind, diese zu unterlaufen. Und dass sie teilweise mit Substanzen manipulieren, die in den Tests gar nicht nachweisbar sind. Das ist unsere zentrale Herausforderung.
Brauchen wir eine "Biathlonisierung" der Leichtathletik?
Helmut Digel:
Man kann vom Biathlon viel lernen. Ich hoffe nur, dass die Leichtathletik begreift, dass es sich lohnt, sich auch mit anderen Sportarten auszutauschen, um sich zu modernisieren. Und nicht zu glauben: Wir wissen schon alles und machen alles besser.
Quelle: Deutsche Presse-Agentur (dpa)