Mit Blick auf die Olympischen Spiele 2016 hat Hürdensprinterin Nadine Hildebrand im Januar die Knorpelschäden an ihrem rechten Knie beheben lassen und die WM-Saison ausgesetzt. Nach ihrem Urlaub startet die 27-Jährige wie die anderen Athleten in die Vorbereitung auf Rio (Brasilien) – mit dem Unterschied, dass sie das automatische Bewegungsschema erst wieder verinnerlichen muss.
Sie hat eine Knieoperation und eine lange Phase der Rehabilitation hinter sich. „Das Ganze hat sich mega hingezogen, wenn es nach mir gegangen wäre, hätte es ruhig schneller gehen können“, sagt Nadine Hildebrand acht Monate später. So lange hat es nach der OP auch ohne Rückschläge und gut verlaufener Genesung gedauert bis die Sindelfingerin in den letzten Wochen zum ersten Mal wieder bei der Wettkampf-Höhe der Frauen-Hürden angelangt ist.
Die knapp 84 Zentimeter hohen Hindernisse hat die 27–Jährige in ihrer Karriere eigentlich schon tausende Male überquert. Doch das Abrufen von automatisierten Mechanismen ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Juristin muss sich an etwas herantasten und gewöhnen, was sie bisher aus dem "FF" abspulte. „Ich muss alles nochmal neu machen und lernen.“ Bis das Gefühl wieder da ist, dauert es. „Es sieht noch nicht so aus, wie ich früher gelaufen bin.“
Olympia ja, richtige Hallensaison nein
Das macht nichts. Denn zu diesem Zeitpunkt des Jahres ist Nadine Hildebrand sonst auch nicht über die hohen Hürden gesprintet. Ein wichtiger Test, um den Respekt zu verlieren, war es aber allemal. Diese Trainingsverschärfung vor dem dreiwöchigen Urlaub, war die Voraussetzung dafür, um nach dem Erholungs-Trip wieder normal trainieren zu können. Wenn die Olympiavorbereitung im Oktober beginnt, muss die Belastungsfähigkeit gegeben sein.
Trotz der Fortschritte kann die Deutsche Meisterin von 2014 von einer richtigen Hallensaison jetzt schon absehen, peilt aber je nach Trainings-Verlauf einzelne Rennen an. „Ich würde sehr gern laufen, sonst bin ich wahnsinnig lange raus aus dem Wettkampf und die Panik vor dem ersten Lauf wäre einfach riesengroß.“ Die will sich Nadine Hildebrand, wenn möglich, schon in der Halle nehmen, bevor es unter freiem Himmel dann um die Olympia-Norm von 12,92 Sekunden geht.
An dem Richtwert für London (Großbritannien) war sie 2012 hauchdünn vorbei geschrammt. Deshalb fiel ihr die Entscheidung für einen operativen Eingriff auch leicht, als sie der Arzt fragte: Hallen-EM in Prag (Tschechien), WM in Peking (China) oder Olympische Spiele in Rio? „Da habe ich doch ganz spontan die Olympischen Spiele gewählt“, sagt sie mit einem Lachen und ließ sich auf die Auszeit ein.
Eine trickreiche Disziplin
Das spannende WM-Finale über 100 Meter Hürden mit dem starken Finish von Cindy Roleder (SC DHfK Leipzig) hat Nadine Hildebrand natürlich nicht verpasst. „Das war ein Wahnsinnslauf von ihr. Echt krass. Ich glaube, wenn es noch ein paar Meter länger gegangen wäre, hätte sie das Ding sogar noch gewonnen.“ Über die Entfernung und die Zeitverschiebung hielt sich die Wehmut, selbst nicht dabei zu sein, in Grenzen – was die Konkurrenz machte entging ihr dennoch nicht.
„Bei den Hürden kann einfach alles passieren“, sagt sie über die im Vorfeld favorisierten US-Amerikanerinnen, die in Peking reihenweise an sich selbst gescheitert seien und am Ende ohne Medaille blieben. Glück und Pech, Erfolg und Niederlage trennt manchmal nicht viel. Dawn Harper-Nelson ist im „Vogelnest“ noch gestürzt und gewinnt danach die Diamond League. „Das sind so mysteriöse Sachen“, die sich in dieser Disziplin in zwei verschiedene Richtungen ereignen können.
Spagat zwischen Tartanbahn und Jura
Den Spagat zwischen Beruf und Spitzensport hatte Nadine Hildebrand bisher austariert. Zu Beginn des Jahres investierte sie in ihrer Reha-Phase mehr in ihre Teilzeitstelle bei einer Anwaltskanzlei. Seit Ende Juli ist sie allerdings auf Jobsuche, es hat doch nicht mehr so ganz funktioniert. Die Juristin will ihr Modell aber beibehalten, braucht neben der Tartanbahn etwas für ihren Kopf und nach der Arbeit eine Pause, bevor es in den Startblock geht.
Im August hatte die volle Konzentration auf den Sport auch Vorteile. So waren acht Trainingseinheiten möglich und der Schritt zur Überquerung der hohen Hürden. „Klar waren die Einheiten nicht so Mördereinheiten, wie ich sonst machen würde.“ Vielleicht so, wie die EM-Sechste 2014 trainierte? Als sie ihr bisher leistungsstärkstes Jahr hatte und in Hochform bei den Deutschen Meisterschaften in Ulm mit Bestzeit von 12,71 Sekunden den Titel vor Cindy Roleder holte.
Besonderes Jahr 2016
Die verpasste Saison ist abgehakt. Die WM-Halbfinalistin von Moskau (Russland) schaut zuversichtlich auf 2016. „Ich traue mir und meinem Trainer zu, dass wir mich wieder rechtzeitig fit kriegen“, sagt der Schützling von Werner Späth. „Das olympische Jahr ist immer was Besonderes. Letztes Mal bin ich so wahnsinnig knapp gescheitert.“ Nur zwei Hundertstel fehlten zur DOSB-Norm, die 2012 auch bei 12,92 Sekunden stand. Da ist die Motivation, die erste Olympiateilnahme zu erreichen, umso größer.
Der Weg ist auch ein kleines Experiment, auf dessen Ausgang Nadine Hildebrand gespannt ist. Gespannt darauf, „wie es mit dem Knie wieder geht und wie schnell es geht.“ Sie sagt sogar: „Mal kucken, ob ich mich überraschen kann.“ Der Urlaub stand schon vor der Entscheidung für die Operation fest. Sie beließ es bei dem Reisetermin - mit dem Ziel: „Bis dahin fit werden und danach wieder normal einsteigen.“ Das Timing ging hier schon mal auf.