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Olympic Moments 2021: Valerie Adams – Nach 20 Jahren immer noch Weltklasse

Zahlreiche internationale Leichtathletik-Asse haben bei den Olympischen Spielen in Tokio (Japan) für Gänsehautmomente gesorgt. Wir blicken zurück auf herausragende Leistungen, erzählen außergewöhnliche Geschichten und stellen beeindruckende Persönlichkeiten vor. Diesmal geht es um Neuseelands "Grande Dame" des Kugelstoßens Valerie Adams, die in Tokio ihre vierte Olympia-Medaille holte – 20 Jahre nach ihrem ersten internationalen Titel. Die Geschichte einer langen, einzigartigen Karriere.
Svenja Sapper

Der olympische Moment ereignet sich in der japanischen Hauptstadt Tokio. Am 1. August 2021, dem dritten Tag der Leichtathletik-Wettkämpfe bei den Olympischen Spielen, im Kugelstoß-Finale der Frauen. Überlegene Siegerin ist die Weltmeisterin aus China, Lijiao Gong. Silber geht an die US-Amerikanerin Raven Saunders. Bronze holt sich die älteste Kugelstoßerin im Feld. Die bereits zweimal bei Olympischen Spielen ganz oben gestanden hat: Valerie Adams aus Neuseeland.

Doch eigentlich beginnt diese Geschichte nicht bei den Olympischen Spielen in Tokio, sondern bereits 20 Jahre früher. Im Juli 2001 gewinnt die 16-jährige Valerie Adams die Goldmedaille bei den U18-Weltmeisterschaften in Debrecen (Ungarn). In der Qualifikation stellt sie mit 17,08 Metern einen Meisterschaftsrekord auf, bevor sie im Finale mit 16,87 Metern mehr als eineinhalb Meter vor der Zweitplatzierten liegt – und das ist keine Geringere als Michelle Carter (USA), die 2016 Adams‘ Nachfolgerin auf dem olympischen Thron werden soll. Meisterschaftsrekorde sind nichts Ungewöhnliches in Debrecen: Es sind nach 1999 in Bydgoszcz (Polen) erst die zweiten Titelkämpfe dieser Altersklasse, die der Weltverband World Athletics, damals noch IAAF, veranstaltet.

Diese Bestmarke sticht allerdings sehr wohl heraus, denn sie steht heute noch in den Listen der Meisterschaftsbestleistungen. Valerie Adams erzielte ihre 17,08 Meter mit der Vier-Kilogramm-Kugel, die auch die Aktiven verwenden. Bis 2013, als in der U18 auf die Drei-Kilo-Kugel umgestellt wurde (die Türkin Emel Dereli stieß im ukrainischen Donetsk mit 20,14 Metern den aktuellen Meisterschaftsrekord mit der leichteren Kugel), konnte keine Athletin Adams‘ Weite aus 2001 übertreffen.

Zwei Jahrzehnte Kugelstoßen auf höchstem Niveau

20 Jahre, eine Hochzeit, Scheidung, erneute Heirat und zwei Babypausen später macht Valerie Adams in Tokio ihren olympischen Medaillensatz komplett. Zweimal Gold, einmal Silber und nun Bronze. Sie ist die älteste Frau, die es 2021 in der Leichtathletik aufs Podest schafft, nur der Bronzemedaillengewinner im Speerwurf, Viteslav Vesely aus Tschechien, ist eineinhalb Jahre älter. Zudem krönt sich Adams zur ersten Leichtathletin, die vier olympische Medaillen in einer technischen Disziplin errungen hat.

Zwischen diesen beiden Medaillengewinnen von Valerie Adams, 2001 in Debrecen und 2021 in Tokio, liegen zwei Jahrzehnte, in denen die Neuseeländerin das Kugelstoßen mitbestimmte und zwischen 2010 und 2014 sogar dominierte wie keine Athletin zuvor: 56 Wettkämpfe in Folge blieb die Olympiasiegerin von 2008 und 2012 ungeschlagen, erst im Juli 2015, ausgebremst von Trainingsrückstand nach einer Operation am Ellenbogen und an der Schulter, unterlag die Neuseeländerin beim Diamond-League-Meeting in Paris (Frankreich) unter anderem der späteren Weltmeisterin Christina Schwanitz (LV 90 Erzgebirge).

Dabei sind Valerie Adams‘ beeindruckende Erfolge, die sie zur erfolgreichsten Kugelstoßerin der Geschichte machen, nur eine Seite der Medaille. Denn sportlich wie privat musste die Ozeanien-Rekordlerin (21,24 Meter beim Gewinn ihres dritten WM-Titels 2011 in Daegu, Südkorea) einige Rückschläge hinnehmen.

Die andere Seite der Medaille

Bereits im Alter von 15 Jahren hatte Valerie Adams ihre Mutter verloren. Lilika Ngauamo stammte aus dem Pazifik-Inselstaat Tonga, Vater Sydney Adams war Engländer, der sich nach einer Karriere in der britischen Navy in Rotorua niedergelassen hatte – einem Kurort auf der Nordinsel von Neuseeland, von dessen etwa 65.000 Einwohnern (Stand: 2021) sich rund 40 Prozent zu den Maori zählen. Dort wurde auch Valerie Adams geboren.

Zu Seemann „Sid“ Adams, der insgesamt 18 Kinder mit fünf Frauen zeugte, hatte Tochter Valerie kein konfliktfreies Verhältnis. Umso enger war die Bindung zu Mutter Lilika, der es auch zu verdanken ist, dass die Kugelstoßerin bis heute den Traditionen und der Kultur Tongas viel Platz in ihrem Leben und dem ihrer Kinder einräumt. Nach der Krebsdiagnose der Mutter, die ihre Tochter in deren sportlichen Ambitionen stets ermutigte und unterstützte, verließ die 15-jährige Valerie ihre Schule, um während der letzten drei Monate im Leben ihrer Mutter mit Lilika im Hospiz zu leben. Dort verfolgten Mutter und Tochter die Olympischen Spiele in Sydney (Australien) 2000 im Fernsehen, bevor Lilika wenige Wochen später verstarb.

In ihrer Trainerin Kirsten Hellier, die sie bis 2010 begleiten sollte, fand Valerie eine Ersatzmutter. „Als meine Mutter starb, war ich auf Kirsten angewiesen. Ich hatte keine Elternfigur, und Kirsten hat diese Rolle übernommen, und ihre Mutter auch. Ich hatte niemanden wirklich, und sie waren für mich da. Das war der großartige Teil, der beste Teil unserer Beziehung“, blickte Adams Jahre später auf diese Phase in ihrem Leben zurück.

Höhen und Tiefen im Privatleben

Bereits 2004, im Alter von noch nicht ganz 20 Jahren, heiratete Valerie Adams Diskuswerfer Bertrand Vili, der aus dem zu Frankreich gehörenden südpazifischen Neukaledonien stammt. Ihren ersten WM-Titel und Olympiasieg errang sie unter dem Namen Valerie Vili. In ihrer Autobiografie „Valerie“ verriet die Kugelstoßerin später, ihr Ehemann sei 2006 betrunken am Steuer in einen Autounfall verwickelt gewesen – symptomatisch für die „massiven Probleme, die unsere Ehe letztlich zum Scheitern verurteilten“. Vier Jahre später folgte die Scheidung.

Seit 2016 ist die Olympia-Zweite von Rio (Brasilien) mit ihrem Jugendfreund, IT-Fachmann Gabriel Price, verheiratet. Mit ihm bekam sie Tochter Kimoana und Sohn Kepaleli, der die tongaische Variante des Namens seines Vaters trägt und damit das Erbe seiner früh verstorbenen Großmutter bewahrt. Im Dezember 2018 sprach die gläubige Christin, die der Religionsgemeinschaft der Mormonen angehört, mit dem World-Athletics-Magazin „Spikes“ offen über die Kinderwunschbehandlung, der sie und ihr Mann sich unterzogen hatten. „Ich leide an Endometriose. Obwohl ich bereits als Teenager während meiner Periode Symptome aufwies, wusste ich nicht, was es war, bis ich versuchte, schwanger zu werden“, erzählte sie.

Vorbild für Paare in Kinderwunschbehandlungen

Die damals 32-Jährige und ihr Ehemann wandten sich an Spezialisten, gingen in eine Kinderwunschklinik. Eine Schwangerschaft auf natürlichem Wege erwies sich jedoch als unmöglich. Im zweiten Zyklus einer In-vitro-Fertilisation (künstlichen Befruchtung) klappte es: 2017 kam Kimoana zur Welt. Zwei Jahre später folgte Kepaleli, ebenfalls entstanden durch künstliche Befruchtung. „Wir hatten unglaubliches Glück“, resümiert die dreimalige Commonwealth-Games-Siegerin gegenüber dem neuseeländischen Magazin Now to Love.

Viele Frauen, insbesondere aus dem pazifischen Raum, hätten sie kontaktiert und ihr dafür gedankt, das Tabuthema künstliche Befruchtung und Unfruchtbarkeit thematisiert zu haben. Für die heute 37-Jährige eine Selbstverständlichkeit: „Es ist so wichtig, darüber zu sprechen und die Menschen zu ermutigen, einfach zum Arzt zu gehen und mit ihm zu reden, wenn sie Schwierigkeiten haben, ein Baby zu bekommen. Dafür muss man sich nicht schämen.“

Um Medaillen betrogen

Auch in sportlicher Hinsicht nimmt die viermalige Weltmeisterin eine Vorbildfunktion ein. 2007 schaffte sie das, was nur wenigen Leichtathletinnen und -athleten geglückt ist: Weltmeistertitel in allen drei Altersklassen (U18, U20, Aktive) zu gewinnen. Auf Gold bei der U18-WM 2001 und den Sieg bei der U20-WM 2002 in Kingston (Jamaika) ließ sie in Osaka (Japan) ihren ersten WM-Titel folgen. Ein Erfolg, der ihr schon zwei Jahre früher hätte gelingen können: Denn die Weltmeisterin von Helsinki (Finnland) 2005, Nadzeya Ostapchuk aus Belarus, wurde später des Dopings überführt.

Bereits 2004 in Athen (Griechenland), bei Valerie Adams‘ ersten Olympischen Spielen, wurde die damals 19-Jährige, die sich als WM-Fünfte 2003 und Silbermedaillengewinnerin der Commonwealth Games 2002 schon einen Namen gemacht hatte, von zwei gedopten Konkurrentinnen um eine bessere Platzierung betrogen. Zwar konnte sie in den Medaillenkampf als ursprünglich Neunte und nachträgliche Siebte nicht mit eingreifen, doch eine Platzierung unter den Top Acht hätte ihr drei weitere Versuche verschafft.

Auch ihr zweites Olympia-Gold 2012 wurde Adams nach einem positiven Dopingtest von Ostapchuk erst eine Woche nach dem Wettkampf zuerkannt. „Die Situation mit Doping schadet unserem Sport. Es spornt mich an, unsere jungen Athleten aufzuklären und ihnen klar zu machen, dass es möglich ist, ein Champion zu werden, ohne illegale Substanzen zu verwenden. Das ist so wichtig, denn es ruiniert dein Leben. Man hat so hart gearbeitet, und wofür? Man wird erwischt – und was dann? Wegen einer Lüge gewinnen?“, empörte sich die Neuseeländerin, die 2017 von Queen Elizabeth geadelt wurde und sich seither Dame Valerie Adams nennen darf, in der Tageszeitung „The Guardian“.

Froh über Gerechtigkeit

Mit gemischten Gefühlen blickt sie zurück auf die Olympischen Spiele 2012 in London (Großbritannien), bei denen sie Silber umgehängt bekam und schließlich doch ihr zweites Olympiagold gewann: „London war bittersüß.“ Um den Triumph fühle sie sich betrogen, aber dennoch „bin ich eine von den Glücklichen“. Denn während sie wenige Wochen nach den Olympischen Spielen ihr rechtmäßiges Gold in Neuseeland vor 2.500 Zuschauern entgegennehmen und sich dafür feiern lassen durfte, müssten andere Athletinnen und Athleten darauf acht Jahre warten.

„Ich bin froh um die Gerechtigkeit“, sagt Valerie Adams. Gegen betrügende Konkurrentinnen könne man nichts ausrichten. Aber: „Die Einzige, die ich kontrollieren kann, ist Valerie. Man muss die Verantwortung für sich selbst übernehmen. Solange ich das tue, tue ich das Richtige“, findet die Athletin.

Eine Einstellung, die sich jahrelang bewährt hat. 2007 in Osaka, 2009 in Berlin, 2011 in Daegu und 2013 in Moskau (Russland) – mit viermal WM-Gold in Folge ist Valerie Adams die erfolgreichste Kugelstoßerin der Geschichte. Auch bei Hallen-Weltmeisterschaften triumphierte sie zwischen 2008 und 2014 viermal in Folge, dazu kommen ihre vier olympischen Medaillen. Die Wettkämpfe, die Adams selbst am prägendsten in Erinnerung geblieben sind, sind aber andere.

Mutter und Weltklasse-Athletin

Stolz ist Valerie Adams auf ihre Silbermedaille von den Commonwealth Games 2018 in Gold Coast (Australien) – nur sechs Monate nach der Geburt ihrer Tochter. Und geradezu euphorisch war die Athletin, nachdem sie im Februar 2021, wenige Monate vor den Olympischen Spielen, die Kugel auf 19,65 Meter befördert hatte – Bestleistung nach der Geburt ihrer Kinder und ihr weitester Stoß seit 2016. „Ich fühle mich wieder wie mein altes Ich. Diejenigen, die an mir gezweifelt haben, lässt das hoffentlich verstummen. Ich möchte Mütter inspirieren, dass sie auch nach der Geburt ihrer Kinder starke Leistungen zeigen können“, jubelte die viermalige Hallen-Weltmeisterin bei World Athletics.

Dass sie ihr Familienleben heute so gut mit dem Sport vereinen kann, verdankt Valerie Adams auch ihrer Schwiegermutter Noma, zu der sie ein inniges Verhältnis hat. Noma, die ihre heutige Schwiegertochter bereits seit deren Jugend kennt, gab ihren Beruf als Lehrerin auf, um unter der Woche im Hause Adams/Price zu leben und die Kinder zu betreuen. „Ich liebe sie wie eine Mutter und nenne sie sogar 'Mum'“, beschreibt Adams die enge Beziehung zu ihrer Schwiegermutter, die ihre Schwiegertochter und deren sportliche Karriere bedingungslos unterstützt und fördert.

Valerie Adams‘ Karriere ist mittlerweile zu einer Familienangelegenheit geworden. Durch ihr privates Glück habe sie die Balance in ihrem Leben gefunden, berichtet die Spitzenathletin. „Jetzt habe ich meinen 'Mutterhut' und meinen 'Trainingshut', und ich kann beide auf- und absetzen. Das ist viel besser. Es ist nicht mehr nur meine Reise, es ist unser aller Reise, und ich möchte sie genießen.“

Paralympics-Erfolg als Trainerin

Neben ihrer Rolle als Mutter und Sportlerin hat die 37-Jährige mittlerweile eine dritte Berufung gefunden: Sie betreut ihre Schwester, Para-Kugelstoßerin Lisa Adams, als Trainerin – und das höchst erfolgreich. Nur wenige Wochen, nachdem Valerie selbst Olympia-Bronze aus Tokio mit nach Hause genommen hatte, stand sie Ende August im selben Stadion und coachte Lisa zu Paralympics-Gold.

„Wir haben das geschafft. Die Hymne wird für uns gespielt, und ich dachte nur daran, wie stolz ich bin. […] Wie besonders es war, mit meiner Schwester auf dieser Reise zu sein, einfach alles“, erzählte die emotionale Lisa Adams, die mit dem Kugelstoßen erst drei Jahre zuvor begonnen hatte, anschließend den Weltverband World Athletics.

Für Schwester Valerie hielt das Jahr 2021 mit Tokio-Bronze und dem Erfolg ihrer Schwester weitere Karriere-Highlights bereit. Ob es auch der Schlussakkord ihrer glanzvollen Laufbahn war? Dazu äußert sich Valerie Adams nicht. Denn obwohl im Sommer Gerüchte um einen möglichen Rücktritt vom Leistungssport in Neuseeland kursierten, behält sich die Athletin selbst noch vor, ihre Karriere fortzusetzen. Auch nach 20 Jahren mitten in der Weltspitze.

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