| Mein Moment 2016

DM in Kassel: Schicksals-Augenblick verpasst

leichtathletik.de war 2016 wieder bei zahlreichen Wettkämpfen live vor Ort und hat von großen Leistungen und den Geschichten am Rand der Tartanbahn berichtet. In der Kategorie "Mein Moment" schreiben unsere Reporter, welcher Augenblick der vergangenen Monate ihnen persönlich besonders in Erinnerung geblieben ist. Heute geht es um einen verpassten Moment – nämlich den, in dem Esther Cremer still und leise zum letzten Mal von der Bahn abtrat.
Jan-Henner Reitze

Die Deutschen Meisterschaften sind für das Team von leichtathletik.de immer auch ein Familientreffen. Sonst verstreut über die Republik, bieten die nationalen Titelkämpfe den schönen Nebeneffekt, sich persönlich zu begegnen und auszutauschen. Seit Jahren ist meine Aufgabe bei diesem Event, mit den jeweiligen Siegern der Disziplinen und den weiteren für das anstehende Großevent qualifizierten Athleten kurze Interviews zu führen. So war es auch in der zurückliegenden Freiluftsaison im Kassler Auestadion, wo mir eine Situation besonders in Erinnerung geblieben ist.

Mit meiner Innenraum-Akkreditierung war ich am ersten Wettkampftag auf dem Weg zu meinem Arbeitsplatz in der Mixed-Zone. Eilig rannte ich den Weg entlang, den auch die Athleten beim Verlassen der Laufbahn nutzten. Weil dabei ein Stück Rasenfläche überquert werden musste, war dort ein Läufer aus Tartan ausgelegt, um die Spikes zu schonen. An diesem Punkt musste ich ausweichen, weil Esther Cremer (TV Wattenscheid 01) nach ihrem 400-Meter-Vorlauf langsam den gleichen Weg entlang ging. An ihrer Seite ihre frühere Disziplin-Kollegin Maral Feizbakhsh.

Kurz überlegte ich, Esther Cremer anzusprechen, verwarf den Gedanken aber wieder. Ich war schließlich auf der Jagd nach Stimmen von den Siegern des Tages, und bei den 400 Metern war das Finale erst am Folgetag. Erst im Nachhinein wurde mir klar, welcher schicksalhafte Moment sich kurz zuvor auf der Bahn für die über Jahre beste DLV-Athletin über 400 Meter abgespielt hatte.

Blick über die Sieger hinaus

Ich hatte nichts davon mitbekommen, dass sich Esther Cremer gerade trotz Schmerzen im Fuß in ihren Vorlauf gestürzt hatte, noch auf der Gegengeraden aber einsehen musste, dass die Quälerei keinen Erfolg bringen konnte, und dann unter Tränen stehen blieb. Es war der allerletzte Auftritt überhaupt der insgesamt sechsmaligen Deutschen Meisterin über 400 Meter.

Dass dieser so wichtige Moment der Karriere dieser langjährig verdienten Athletin an mir vorbeigegangen ist, hat mich nachdenklich gemacht. Sicherlich hat es seine Berechtigung, dass den Siegern und weiteren führenden Athleten der größte Teil der Aufmerksamkeit geschenkt wird. Und einen guten Job zu machen, erfordert manchmal einen gewissen Tunnelblick. Aber ein kurzer Moment, um ein paar Worte zu wechseln – den sollte man sich viel öfter einfach nehmen. Wer weiß, wann sich noch einmal die Gelegenheit bietet, und welche Erkenntnisse das Gespräch offenbart.

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