| Interview der Woche

Yemisi Ogunleye: "Das sind Momente, von denen man träumt"

© Torben Flatemersch
Mit einer Silbermedaille und einer sensationellen Steigerung auf 20,19 Meter hat Yemisi Ogunleye (MTG Mannheim) bei der Hallen-WM in Glasgow (Großbritannien) am Freitag die Tür zu neuen Dimensionen aufgestoßen. Wir haben mit der Kugelstoßerin über diesen ganz besonderen Wettkampf gesprochen – über die Kunst des ersten Versuchs, Ruhe und Zuversicht, den Rückhalt im Glauben und in ihrem Umfeld und darüber, was diese Leistung für den Rest der Saison bedeuten kann.
Silke Bernhart

Yemisi Ogunleye: Eine Silbermedaille bei Hallen-Weltmeisterschaften. Mit einem 20-Meter-Stoß! Was war das gerade für ein erster Versuch?!

Yemisi Ogunleye:
Das ist so surreal, was gerade passiert ist. Wir reden nicht nur von 19, wir reden von 20 Metern. Ich bin heute Morgen mit dem Bibelvers „Sei mutig und sei stark“ aufgestanden. Mit dieser Zuversicht bin ich in den Wettkampf gegangen und habe mir gesagt: Heute darfst du nicht zögern, heute geht es um alles. Ich glaube, diese Zuversicht und diese Ruhe haben mir geholfen, im ersten Versuch so eine Weite rauszuhauen. Aber dass es jetzt wirklich 20 Meter geworden sind – ich kann es nicht glauben. Ich bin fassungslos.

Sie waren nach diesem Versuch gar nicht so euphorisch wie sonst nach guten Stößen. Sie waren ganz ruhig! Was ging da in Ihnen vor?

Yemisi Ogunleye:
Ich wusste, dass ich starke Konkurrenz habe und dass die anderen Mädels auch dazu in der Lage sind, 20 Meter zu stoßen. Ich habe ein bisschen aus Budapest gelernt, in so einem Moment nicht gleich die ganze Freude auszuschütten, sondern die Kraft bei mir zu halten und das in den nächsten Versuchen noch ein bisschen zu steigern. Ich hatte noch mal einen guten Versuch, hintenraus ist ein bisschen die Puste ausgegangen – klar, 20 Meter sind eine krasse Leistung. Das ging in mir vor. Und ich war einfach schockiert!

Wussten Sie, dass die Kugel über die 20 Meter geflogen war?

Yemisi Ogunleye:
Ich habe den Einschlag von der Kugel nicht gesehen. Als er [der Kampfrichter] dorthin gelaufen ist, über die 20-Meter-Linie, dachte ich: Das ist jetzt nicht wirklich passiert!

Nun fehlen ein paar Zentimeterchen, konkret vier, zu Gold. Verspüren Sie da auch ein bisschen Wehmut?

Yemisi Ogunleye:
Null komma Null. Ich wusste, ich trete heute gegen die weltbesten Athletinnen an. Zu wissen, ich bin eine davon und ich bin dazu in der Lage, auch in diesem Bereich zu stoßen, das macht mich unglaublich froh und glücklich. Ich trauere den Zentimetern nicht hinterher, ich habe über 20 Meter gestoßen und gehe heute mit einer Medaille nach Hause – wer hätte das gedacht?

Sie sind mit einer Bestleistung von 19,57 Metern auf Platz vier der Meldeliste angereist und haben vorher gesagt: Die Top Sechs sind mein Ziel. War das ein bisschen tiefgestapelt – haben Sie gespürt, dass mehr möglich ist?

Yemisi Ogunleye:
Das war mein realistisches Ziel. Ich setze die Latte bewusst nicht so hoch, um in mir keinen Druck zu verspüren. Ich wusste, wenn ich hier in den Bereich meiner Bestleistung komme, wird es am Ende sicher eine Top-Sechs-Platzierung. Aber ich habe mich dadurch nicht limitieren lassen. Ich habe mir gesagt: Ich gehe im ersten Versuch voll drauf. Der erste Versuch ist scheinbar irgendwie voll mein Ding (lacht). Vielleicht, weil da eine gewisse Ruhe in mir herrscht und ich noch keinerlei Druck von außen verspüre. In den nächsten Versuchen muss man sich dann wieder vollkommen fokussieren, um da noch was draufzulegen.

Was ist denn in diesem ersten Stoß besonders gut gelungen?

Yemisi Ogunleye:
Ich habe es in den letzten Wettkämpfen geschafft, eine gewisse Ruhe in meine Stöße reinzubekommen. Und die Sicherheit zu wissen: Du kannst es, Yemi, du hast mit deinem Trainerteam so daran gearbeitet! Das ist für das Drehstoßen so wichtig, dass man nicht überhastet, sondern mit Ruhe reingeht. Ich wollte nicht draufhauen, sondern in die richtige Position kommen, um die Kugel gut zu treffen. Ruhe ist das Schlüsselwort und das Geheimnis. Was ja so paradox ist! Denn Kugelstoßen ist Kraftsport, es geht um Schnelligkeit, um Athletik. Dann dabei die Ruhe zu bewahren, das hilft mir extrem.

Wie war es gerade für Sie, mit der Fahne zu posieren und mit der Fahne um die Schultern aus der Halle zu gehen?

Yemisi Ogunleye:
Das sind Momente, von denen man träumt. Ich habe mir das schon oft vorgestellt, dass ich irgendwann mal die Flagge hochhalten kann. Da steckt so viel dahinter. Meine Familie steht hinter mir. Mein Trainerteam, meine Trainerin Iris Manke-Reimers, die mich jetzt seit zehn Jahren begleitet. Sie hat mich damals mit Krücken übernommen und hat gesagt, sie startet den Weg mit mir. Da steckt ein unglaubliches Team dahinter, das Gott an meine Seite gestellt hat. Das gibt mir ganz, ganz viel Rückhalt: Dass es Menschen gibt, die für mich beten, die an mich glauben, auch in Zeiten, in denen ich es nicht getan habe. Diese Medaille teile ich mit ganz vielen Menschen da draußen.

Heute geht es ganz sicher nur um diesen besonderen Moment. Aber lassen Sie uns trotzdem einen kleinen Blick in die Zukunft werfen. 20,19 Meter – was bedeutet das in der Karriere einer Kugelstoßerin?

Yemisi Ogunleye:
Das gibt mir so viel Zuversicht. Ich dachte: Für die 20 Meter muss was ganz Besonderes passieren. Du musst auf einem ganz krassen Kraftlevel sein. Du musst irgendwelche besonderen Voraussetzungen haben. Es soll sich nicht doof anhören, aber: Es war so simpel! Es war die Ruhe und die Freude, das zu machen, was man gut kann. Und darauf zu vertrauen, dass das ausreicht. Da fällt man manchmal ein bisschen ins Vergleichen: Was machen die anderen, auch im Kraftraum…? Ich bin sichtlich nicht unbedingt die typische Kugelstoßerin, aber mein Trainerteam hat mich in meinen Stärken aufgebaut und mir gesagt: Du hast das, was es braucht. Auch wenn wir die 20 Meter eigentlich nie ausgesprochen haben. Die 19 waren grad neu – jetzt reden wir von 20 Metern!

Und das in einer Saison mit EM und Olympischen Spielen…

Yemisi Ogunleye:
Das gibt mir sehr viel Zuversicht für diese Saison. Jetzt ist es wichtig, gesund zu bleiben und den Ball flachzuhalten. Das ist noch nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas ganz Wunderschönem! Jetzt mache ich aber erstmal Pause, sortiere mich noch mal, werde auf jeden Fall mit meinem Trainerteam, meiner Familie und meiner Gemeinde ein fettes Freudenfest feiern. Ich freu mich schon, wenn ich wieder zurück in meiner Church bin und wir gemeinsam Gott die Ehre geben können für das, was er hier getan hat.

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