| Persönlicher Rückblick

Mein Moment 2022 – 50 Goldmedaillen für Resilienz und Kämpferherz

Das Leichtathletik-Jahr 2022 mit der WM in Eugene (USA) und der Heim-EM in München ist fast Geschichte. Wir haben in den letzten zwölf Monaten von zahlreichen nationalen und internationalen Meisterschaften in Text, Bild und Video berichtet. Zum Jahresende erinnert sich die leichtathletik.de-Redaktion in persönlichen Rückblicken an besondere Momente der Saison. Wir beginnen mit einer aufregenden Woche bei der U18-EM in Jerusalem.
Svenja Sapper

Es war ein Mittwoch, der dritte Tag der U18-Europameisterschaften in Israel. Im Givat-Ram-Stadion von Jerusalem standen bereits vormittags die ersten Entscheidungen an und nach dem Finale über 2.000 Meter Hindernis strahlten zwei junge Läuferinnen mit der Sonne um die Wette. Was sich zuvor abgespielt hatte, war eine Demonstration der Stärke von Jolanda Kallabis (FT Freiburg 1844) gewesen: Die 17-Jährige löste sich am vorletzten Wassergraben von der Konkurrenz und war in 6:20,22 Minuten nicht mehr aufzuhalten.

Deutsche U18- und U20-Bestleistung, Meisterschaftsrekord, fast sogar europäische Bestzeit! Dahinter stürmte Team-Kollegin Adia Budde (TV Altenholz) zu Silber. Das erste Gold für das deutsche Team und der einzige Doppelsieg für eine Nation überhaupt bei der U18-EM. „Das Rennen war genau so geplant“, erzählten die Mädels anschließend, als sie auf Deutsch und Englisch in der Mixed Zone Rede und Antwort standen. Und geduldig auch dann noch Fragen beantworteten, als der Kollege von European Athletics mir kurzerhand ein Mikro in die Hand drückte und fragte, ob wir auch noch ein Video-Interview führen könnten.

Jolanda Kallabis, die einige Monate später U18-Weltbestzeit über diese Strecke laufen würde, hatte sich selbst und der deutschen Mannschaft einen besonderen Triumph-Moment beschert, dessen Magie sich auch die internationalen Medienvertreter nicht entziehen konnten: Bei Livestream-Kommentator Phil Minshull und dem netten italienischen Kollegen, der auf der Pressetribüne neben mir saß, wurden Erinnerungen an die Erfolge ihres Vaters Damian Kallabis, Deutscher Hindernis-Rekordler und Europameister von 1998, wach.

Reise nach Jerusalem, aber wie?

Doch das vielleicht Bemerkenswerteste an dieser Leistung waren die Umstände, unter denen sie erbracht worden war. Der Weg des deutschen Teams nach Jerusalem war nämlich kein leichter gewesen. Rund 80 Mannschaftsmitglieder, darunter auch ich, saßen am Freitagmittag vor Beginn der Meisterschaften bereits im Flugzeug, das von Frankfurt in Richtung Tel Aviv abheben sollte, als plötzlich die Durchsage aus dem Cockpit ertönte: Es fehlte an Bodenpersonal – Flug gestrichen, Ankunft am Zielort demnach ungewiss.

Die folgenden zwei Tage glichen dem – bei Kindergeburtstagen und Hochzeiten mehr oder weniger beliebten – Spiel, das passenderweise den Namen „Reise nach Jerusalem“ trägt: Tag und Nacht verbrachten Team-Managerin Nicole Großkopf und Hammerwurf-Trainer Steve Schneider mit aufopferungsvoller Geduld und eisernem Durchhaltevermögen am Frankfurter Flughafen, um für jedes Teammitglied einen Platz in einem Flieger zu ergattern, bevor ihn uns jemand wegschnappte. Und diese 50 Jugendlichen, von denen die meisten 16 oder 17 und einige gar erst 15 Jahre alt und auf dem Weg zu ihrer ersten internationalen Meisterschaft waren, meisterten diese Tage in der Warteschleife in bewundernswerter Manier.

Niemand verlor die Nerven oder brach in Tränen aus, als wir nach der Hiobsbotschaft noch zwei Stunden in der Maschine ausharren mussten. Auch nicht, als wir weitere Wartezeit am Flughafen zubrachten und schließlich in der Frankfurter Sportschule unterkamen, die mit dem Landessportbund Hessen die Heldentat vollbrachte, uns zwei Tage lang mit Essen und Schlafplätzen zu versorgen (dafür sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt!).

Wahre Stärke schon vor Ankunft bewiesen

In den nächsten Tagen war Flexibilität gefragt: Die Ersten konnten kurzfristig bereits am Samstagmorgen nach Israel fliegen und standen binnen Minuten mit gepackten Rucksäcken in der Lobby bereit zum Aufbruch. Sie alle trugen die Situation mit unglaublicher Gelassenheit und Professionalität mit. Wann immer ich in den Gängen der Sportschule einem jungen Athleten oder einer Athletin begegnete und fragte: „Wie geht es dir, kommst du klar?“, erhielt ich eine Antwort, die von Optimismus und einer durchweg positiven Einstellung zeugte.

Ich weiß bis heute nicht, ob die Leichtathletik-Talente diese Stärke aus sich selbst schöpften oder ob wir, das Betreuerteam, so viel Hoffnung und Zuversicht ausstrahlten, dass sie uns einfach vertrauten, dass wir sie schon rechtzeitig nach Jerusalem bringen würden – egal wie. Sprinter Benedikt Wallstein (Gothaer Leichtathletik Centrum) formulierte es noch am Flughafen folgendermaßen: „Wenn wir die Situation schon nicht ändern können, nehmen wir sie wenigstens mit Humor.“

Meine Reaktion ist immer noch ungläubiges Kopfschütteln, wenn ich daran denke, dass diese Mannschaft, von der die Letzten erst am Sonntagabend gen Israel abreisen konnten, in den darauffolgenden Tagen 14 Medaillen – mehr als ihre Vorgänger bei den bis dahin zwei Ausgaben der U18-EM – abräumte und die Nationenwertung anführte. Die Youngster sorgten bereits am Dienstagabend in der ersten Finalsession mit fünfmal Edelmetall im Minutentakt dafür, dass der Wirbel um die Anreise fast schon zur Randnotiz geriet. Und ich musste auf der Pressetribüne kräftig durchatmen: Was war das für ein Medaillenregen!

Gänsehautmomente am Fließband

Anstelle von Jolanda Kallabis und Adia Budde hätte ich ebenso die Leistung von Benedikt Wallstein hervorheben können, der weniger als 24 Stunden, nachdem er den Fuß auf israelische Erde gesetzt hatte, selbigen bereits wieder verwendete, um in seinem Vorlauf rasend schnelle 100 Meter abzuspulen. Und einen weiteren Tag und zwei Runden später in einer Tausendstel-Entscheidung Bronze gewann.

Oder 800-Meter-Läuferin Jana Becker (noch LG Wettenberg), die nach einer denkbar ungünstig verlaufenen ersten Runde auf den zweiten 400 Metern ihr Kämpferherz auspackte und mit einem fulminanten Endspurt zu Silber rannte. Eine Schlussrunde, auf die mich hinterher gar der britische Medienbegleiter Jarryd Dunn, einstiger 400-Meter-Spezialist, ansprach. Oder, oder, oder …

Natürlich zählten auch die drei weiteren Goldmedaillen, die am Donnerstag folgten, zu den Sternstunden der U18-Europameisterschaften – nicht nur für die Talente, sondern auch für mich. Geher Frederick Weigel (SC Potsdam), der dank der Startzeit um sieben Uhr morgens im Stadion die ganze Aufmerksamkeit genoss und diese nutzte. Denn der kleine, aber feine Frühaufsteher-Fanclub der deutschen Mannschaft, dem ich mich auf der Tribüne anschloss, traute seinen Augen kaum, als der 17-Jährige über 10.000 Meter vom Start weg das Kommando übernahm und die Spitzenposition bis zum Ziel nicht mehr hergab.

Als Reporterin und Fan im Einsatz

Diskuswerferin Curly Brown traf ich nach der mit Bestleistung (49,99 m) gewonnenen Qualifikation auf dem Aufwärmplatz. Sie sagte: „Das war die fast perfekte Qualifikation. Im Finale muss der eine Zentimeter noch her, das wäre das i-Tüpfelchen.“ Sich das bei der ersten internationalen Meisterschaft vorzunehmen, ist eine Sache. Dann aber diese Ankündigung direkt im ersten Versuch in die Tat umzusetzen und sich von der ebenfalls 50 Meter werfenden Französin Princesse Hyman nicht verunsichern zu lassen, eine andere. Am Ende stand die Frankfurterin mit 50,64 Metern auf dem obersten Podest.

Unvergessen bleibt auch der Donnerstagabend, als ich auf Höhe der Ziellinie Sekundenzahlen in den Jerusalemer Nachthimmel schrie. Der Grund: Ich wollte so schnell wie möglich herausfinden, ob Zehnkämpfer Amadeus Gräber (SV Leonardo-da-Vinci Nauen) es wirklich geschafft hatte, dem Franzosen Alexandre Montagne die für den Sieg notwendigen sieben Sekunden abzuknöpfen. Dem 1.500-Meter-Lauf vorangegangen war ein Missgeschick des Deutschen im Speerwurf, das für die letzte Disziplin mehr als nur ein Fragezeichen aufwarf.

Ob der getapte Fuß von Amadeus Gräber die dreidreiviertel Stadionrunden durchhalten und es gar noch zu einem Angriff auf Gold reichen würde, konnten vor dem Rennen weder die Trainer noch der Allrounder selbst einschätzen. Als schließlich feststand, dass der 17-Jährige nach zehn Disziplinen tatsächlich zum ersten Mal an der Spitze des Zehnkampffeldes thronte, kannte der Jubel der deutschen Delegation keine Grenzen mehr.

Unvergessliche Premiere – auch für mich

Natürlich erfüllten sich auch bei diesen Meisterschaften nicht alle Träume. Doch ich durfte in der Mixed Zone bedeutend häufiger zu Spitzenleistungen gratulieren, als ich Tränen trocknen musste. Mitzuerleben, wie bewundernswert gefasst und besonnen die Jugendlichen mit dem gecancelten Flug und den daraus resultierenden Herausforderungen umgingen, blieb trotz des Medaillenglanzes mein ganz persönliches Highlight.

Und darum möchte ich hiermit 50 virtuelle Goldmedaillen verleihen – an jeden Athleten, jede Athletin eine. Für ihre Resilienz: die Fähigkeit, eine schwierige Situation mit kühlem Kopf und ohne spürbare Auswirkungen zu bewältigen. Für Kampfgeist, Stärke, Widerstandskraft, Leidenschaft und ganz viel Herz.

Wie für fast alle der Athletinnen und Athleten war es auch für mich der erste Einsatz bei einer internationalen Meisterschaft. Ich bin unglaublich dankbar, dass ich dieses Abenteuer gemeinsam mit den 50 Leichtathletik-Talenten und dem gesamten Trainer- und Betreuerstab erleben, ihre Geschichten erzählen und mit ihnen auf der Erfolgswelle reiten durfte. Es war mir eine wahre Freude und eine riesengroße Ehre, diese Mannschaft nach Jerusalem zu begleiten. Ich würde jederzeit wieder mit euch reisen.

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