| Rückblick

Mein Moment: Medaillen-Festspiele am letzten Tag der U20-EM

© Iris Hensel
Das Leichtathletik-Jahr 2023 ist (fast) Geschichte. Wir nehmen das Jahresende zum Anlass, einige Highlights noch einmal Revue passieren zu lassen. In persönlichen Rückblicken erinnert sich die leichtathletik.de-Redaktion an besondere Momente. Heute im Fokus: ein langer Arbeitstag bei der U20-EM in Jerusalem.
Svenja Sapper

Lange Arbeitstage. Kurze Nächte. Jede Menge Action. Eine Nationalmannschaft zu einer internationalen Meisterschaft zu begleiten, erfordert viel Disziplin und gute Multitasking-Skills. Wie sehr ich diese in Jerusalem (Israel) brauchen würde, war mir spätestens klar, als ich die finale Team-Aufstellung für die U20-EM sah. Was für eine riesige Mannschaft! Mehr als 100 Athletinnen und Athleten machten sich am 4. August auf, um in 22 Disziplinen und 43 Einzel-Wettbewerben ihr Bestes zu geben. Angesichts der nur vier Wettkampftage war klar, dass nicht nur die Talente ihre Top-Form auf die Bahn bringen, sondern auch ich als Redakteurin Höchstleistung würde abrufen müssen.

Am Abschlusstag der U20-EM hatten die meisten Athletinnen und Athleten ihren Auftritt bereits hinter sich. 13 Medaillen hatte das deutsche Team zu diesem Zeitpunkt auf dem Konto, und der letzte Tag, vollgepackt mit Final-Entscheidungen, hatte es noch einmal ordentlich in sich. Schon um 6:45 Uhr betrat ich das Givat-Ram-Stadion, bereit für die Medaillenvergabe im Bahngehen über 10.000 Meter. Mit dabei: Frederick Weigel, der im Vorjahr an selber Stätte Gold bei der U18-EM gewonnen hatte. 

Der junge Potsdamer wählte dieselbe Taktik wie ein Jahr zuvor und marschierte mutig vorneweg. "Ich dachte, die anderen gehen mit, vor allem der Türke oder der Italiener. Vielleicht haben die aber gedacht, ich breche eh noch ein", wunderte er sich, als er knapp eine Dreiviertelstunde später als neuer U20-Europameister bei mir in der Mixed Zone stand. Glückwünsche gab es sogleich von seinem Vater Ronald Weigel, Bundestrainer der Geher und Geherinnen. 

Schlag auf Schlag

In der Weitsprung-Grube fighteten wenig später gleich drei deutsche Athletinnen um Edelmetall. Mit dem besten Ende für Laura Raquel Müller (Unterländer LG), die sich in ihrer Comeback-Saison nach langer Verletzungspause mit Bestleistung (6,51 m) Bronze sicherte. "Das freut mich unendlich", strahlte sie. "Wenn mir jemand vorher gesagt hätte, dass es für den dritten Platz reicht und nur so wenige Zentimeter zum zweiten und ersten Platz fehlen, hätte ich niemals daran geglaubt." 

Ein Highlight jagte im Givat-Ram-Stadion das nächste. Die Hochspringer ermittelten ihren Europameister. Schon machten sich die Diskuswerferinnen für ihr Finale bereit. Auf der anderen Seite des Stadions sprangen sich die Zehnkämpfer im Stabhochsprung ein. Um der brütenden Mittagssonne zu entkommen, die erbarmungslos auf die Pressetribüne brannte, stand ich mit den Mehrkampf-Trainern an der Stabhochsprung-Anlage. Unter einem Sonnenschirm, der den nötigen Schatten spendete, beobachteten wir, wie die Disken über den Rasen flogen. 

Es sah gut aus für die drei deutschen Athletinnen: Milina Wepiwe (TSG Wehrheim) führte das Feld seit dem ersten Durchgang an. Vor Lea Bork (LV 90 Erzgebirge), der Deutschen U20-Meisterin. U18-Europameisterin Curly Brown (Eintracht Frankfurt) rangierte auf dem fünften Platz. "Wenn Curly das letzte Mal wirft, gehe ich rüber", sagte ich zu den Mehrkampf-Trainern. Ich hätte keinen passenderen Moment auswählen können. 

Diskus-Sweep und Zehnkampf-Action

Der letzte Versuch. Die Scheibe segelte durch die Luft und landete ein gutes Stück hinter der 50-Meter-Marke. Reichte das noch für eine Medaille? Und ob! 53,93 Meter leuchteten auf der Anzeigetafel auf. Bestleistung für die jüngste Werferin im Feld und die Führung! Und das, nachdem sie es in der Qualifikation als Zwölfte gerade so ins Finale geschafft hatte. Kurz hieß es noch zittern, denn die Französin Marie Josee Bovela Linaka hatte noch einmal die Chance zu kontern. Dann stand fest: Die deutschen Diskuswerferinnen hatten soeben die ganze Palette Gold, Silber und Bronze abgeräumt. 

Auf meinem Weg zur Mixed Zone kam ich an den deutschen Wurftrainern vorbei, die auf der Haupttribüne saßen. Sie klatschten und jubelten, ebenso wie die zahlreichen Mitglieder der deutschen Mannschaft, die sich rund um den Diskusring versammelt hatten und die drei Athletinnen ausgiebig feierten. Ich wartete geduldig in der Mixed Zone auf die drei strahlenden Youngsters, deren Mannschaftsstärke auch die Kolleginnen und Kollegen von European Athletics beeindruckte. 

Zurück auf meinem Presse-Platz, tippte ich eifrig die Erfolgsmeldung in meinen Laptop. Unterdessen war der Stabhochsprung der Zehnkämpfer bereits in vollem Gange. Und als sich Amadeus Gräber (SV Leonardo-da-Vinci Nauen), U18-Europameister des Vorjahres, Höhe um Höhe über die Latte schraubte, stellte ich fest, dass es sich nicht lohnen würde, über Mittag einen Stopp im Mannschaftshotel einzulegen. Der letzte Shuttle-Bus war schon lange abgefahren. 

Mittagspause im Stadion

Die deutschen Zehnkämpfer belohnten meine Entscheidung, bis zum Ende des Stabhochsprungs im Stadion auszuharren, mit persönlichen Bestmarken. Emanuel Molleker (LG Filder) überquerte 4,40 Meter. Friedrich Schulze (Eintracht Frankfurt) meisterte trotz eines Stabbruchs 4,60 Meter. Und Amadeus Gräber überwand ohne einen einzigen Fehlversuch 5,10 Meter, eine neue Meisterschaftsbestleistung. Zugleich neuer Hausrekord, der achte (!) in ebenso vielen Disziplinen. 

Ein paar Minuten Verschnaufpause blieben noch. So kaufte ich mir am Stadion-Kiosk ein paar Snacks, legte mich mit Musik auf den Ohren kurz auf der Pressetribüne quer über die Sitzbänke und starrte in den strahlend blauen Himmel. Die Sonne war zum Glück weitergezogen, sodass mein Platz nun im Schatten lag. Kurz darauf brach die Abendsession an und ich erhielt einen Spezial-Auftrag. Da die DLV-Talente das Medaillenkonto am Vormittag auf 18 aufgestockt hatten, gingen die Deutschland-Fahnen zur Neige. Ich wurde also gebeten, die Fahnen in der Mixed Zone an die nächsten Medaillen-Gewinner weiterzureichen.

Der Abend startete mit dem Speerwurf der Zehnkämpfer und der – was sonst? – neunten Bestleistung von Amadeus Gräber. Wenig später standen die Staffel-Endläufe an. Als Erstes machten Nele Jaworski (VfL Wolfsburg), Chelsea Kadiri (SC Magdeburg), Hürden-Siegerin Rosina Schneider (TV Sulz) und Holly Okuku (Sprintteam Wetzlar) über 4x100 Meter den nächsten Gold-Triumph perfekt. Anschließend feuerten die frisch gekürten U20-Europameisterinnen, ausgestattet mit Deutschland-Fahne, die Team-Kollegen in ihrem 4x100 Meter-Finale an. Mit Erfolg: Trotz eines beinahe verpatzten Wechsels sprintete das DLV-Quartett zu Bronze. 

Emotionaler Spagat

Weiter ging's mit dem 5.000 Meter-Endlauf und einer glänzend aufgelegten Kira Weis (KSG Gerlingen), die ihre Bestzeit gleich um 27 Sekunden verbesserte und Silber holte. "Ich glaube, ich habe niemanden so laut jubeln gehört wie Team Deutschland", schwärmte sie von der Unterstützung im Stadion. Die wurde kurz darauf auch den Zehnkämpfern zuteil, die einen Wettkampf der Extraklasse abschlossen. Für eine Medaille mussten mehr als 8.000 Punkte her, und mit 8.209 Zählern, inoffizieller U19-Weltrekord, überstrahlte Amadeus Gräber das gesamte Feld. Weitere Top-Ergebnisse jenseits der Medaillen gab es in den Lauf-Finals, etwa durch 400 Meter-Hürdenläufer Owe Fischer-Breiholz (Schweriner SC) auf Platz vier.

Den krönenden Abschluss bildeten die 4x400 Meter-Staffeln. Und sorgten zugleich für einen Regenbogen an Emotionen. Ein Sturz kostete das deutsche Frauen-Quartett auf den letzten Metern die ersehnte Medaille. "Das passiert, das hätte jeder von uns passieren können", trösteten die Team-Kolleginnen in der Mixed Zone. Wie recht sie damit hatten, zeigte sich nur neun Tage später, als ich, diesmal auf der Pressetribüne des Budapester Leichtathletikstadions, Zeugin eines nahezu identischen Schauspiels wurde – mit 400-Meter-Hürden-Star Femke Bol (Niederlande) in der Hauptrolle.

In Jerusalem war wenig später wieder Jubeln angesagt, als die 4x400 Meter-Staffel der Männer mit einem Kraftakt zu Silber rannte. Ihre Medaillen nahmen die Jungs bei der Abschluss-Party entgegen, die im Stadion mit Musik gefeiert wurde. Der Stadion-Innenraum wurde geöffnet und Publikum wie Team-Mitglieder waren auf der Kunststoffbahn ganz nah dran an den letzten Siegerehrungen. Und das war noch lange nicht das Ende der Party. Denn die ging im Mannschaftshotel anschließend bis tief in die Nacht. Ein perfektes Ende einer wunderbaren Meisterschaft. 

Teilen
#TrueAthletes – TrueTalk

Hier finden Sie alle Folgen des Podcasts des Deutschen Leichtathletik-Verbandes!

Zum Podcast
Jetzt Downloaden
DM-Tickets 2024