| Interview der Woche

Julian Reus: „10,01 Sekunden sind schlagbar“

Durch die Premiere des Sprints bei „Berlin fliegt!“ durfte am Sonntag erstmals auch Julian Reus (TV Wattenscheid 01) vor dem Brandenburger Tor sein Können beweisen. Gemeinsam mit Weitspringerin Malaika Mihambo (LG Kurpfalz) und Stabhochspringer Tobias Scherbart (TSV Bayer 04 Leverkusen) holte sich der Deutsche Rekordler gleich den Sieg in der Teamwertung. Im Interview mit leichtathletik.de spricht er über das neue Event, blickt aber auch auf die Olympischen Spiele zurück und leitet daraus neue Herausforderungen für sich persönlich aber auch den Männersprint im DLV insgesamt ab.
Jan-Henner Reitze

Julian Reus, wie haben Sie Ihre Premiere bei "Berlin fliegt!" erlebt?

Julian Reus:

Stimmung, Kulisse und Wettkampf waren top. Es hat mir großen Spaß gemacht, dabei sein zu dürfen. Für mich war es vor allem etwas Schönes, dass es ein Teamwettkampf war. Wenn sich die Möglichkeit ergibt, möchte ich in den nächsten Jahren wieder sehr gerne hier laufen. Toll, dass wir gewonnen haben. Malaika und Tobi haben eine super Leistung abgeliefert. Es war ein sehr schönes Gefühl, dass wir als Team ganz oben stehen durften.

Der Sprint in einem neuartigen Format ist erstmals im Programm gewesen. Im Vorfeld waren Sie gespannt, wie es sein wird, allein auf einem Steg zu laufen. Wie war's?

Julian Reus:

Das war einfacher, als ich mir vorgestellt habe. Nach der ersten Steigerung war mir klar, dass es gut umsetzbar sein wird, auf dem Steg so schnell wie möglich zu rennen. Was das Bremsen angeht, bin ich relativ sensibel und es hat funktioniert. Ich bin gesund aus dem Wettkampf gekommen. Eventuell könnte man für das nächste mal eine noch optimalere Lösung finden.

Es ging nicht wie sonst üblich um die Zeit, sondern um die Höchstgeschwindigkeit. Wie sehen Sie diese Methode des Leistungsvergleichs?  

Julian Reus:

Gerade im ersten Durchgang hat man gemerkt, dass die Differenz zwischen den einzelnen Athleten sehr groß war. Die Techniker mussten sich bei der Radarmessung erst reinfuchsen. Wir haben im Laufe des Wettkampfes realistische Werte gesehen. Es ist gehört immer Mut dazu, Neues auszuprobieren.

War „Berlin fliegt!“ der letzte Wettkampf für dieses Jahr?

Julian Reus:

Ja. Die Saison ging von Anfang Mai bis September, mit der EM in Amsterdam und den Olympischen Spielen gab es gleich zwei Höhepunkte. Da schreien Körper und Kopf nach einer Pause. Die sollen sie bekommen.

Seit Ihrer Rückkehr von den Olympischen Spielen ist etwas Zeit vergangen. Welche Erinnerungen bleiben für Sie an Rio?

Julian Reus:

Aus meiner Sicht war es im Nachhinein grenzwertig, dass die Spiele vom IOC nach Rio vergeben wurden. Das Land, die Stadt und die Menschen beschäftigen andere Dinge als der olympische Sport. Das hat sich auf die grundsätzliche Euphorie ausgewirkt, die Olympia ausmacht. Das ist kein Vorwurf an das Land. Vielleicht war die Situation zum Zeitpunkt der Vergabe vor sieben Jahren eine andere. Aber jetzt muss man sagen, es war nicht vergleichbar mit London. Dort war die Grundstimmung ganz anders.

Und die sportlichen Erinnerungen?

Julian Reus:

Die Wettkampforganisation war okay. Für mich persönlich lief es wechselhaft. Ich hatte einen sehr guten 200-Meter-Lauf. Mit 20,39 Sekunden bin ich Saisonbestzeit gelaufen und nah an die persönliche Bestzeit. Dass ich mit dieser Zeit im Vorlauf ausgeschieden bin, ist extrem hart. In London haben 20,37 Sekunden für den Finaleinzug gereicht. Das Niveau hat sich zwischen Platz zehn und Platz 60 extrem zusammengeschoben. Anderthalb Zehntel machen dort teilweise 40 Plätze aus. Die 100 Meter waren unter meinem Wert. Dafür gibt es Gründe, die wir analysiert haben. Öffentlich möchte ich diese Analyse nicht machen. Mit der Staffel sind wir ähnlich wie in London unglücklich mit sieben Hundertstelsekunden ausgeschieden.

In der Staffel haben Sie sogar mit einer Medaille geliebäugelt. Bronze ging letzten Endes in 37,64 Sekunden an Kanada. War das Niveau damit noch höher als Sie erwartet haben?

Julian Reus:

Wir haben im Vorfeld gesagt, wir wollen ins Finale und dort in den Kampf um die Medaillen eingreifen. Ich bin immer noch der Meinung, dass dies nach den vergangenen beiden Weltmeisterschaften mit zweimal Platz vier nicht utopisch war. Man muss aber auch ehrlich sagen, wir sind aktuell wohl nicht in der Lage, 37,6 zu laufen. Platz vier bis sechs wäre möglich und auch überragend gewesen. Es deckt sich mit der Einschätzung der Entwicklung der Einzelzeiten. Das spiegelt sich auch in den Staffelzeiten wider.

Wie erklären Sie sich diese Entwicklung, zum Beispiel der Japaner, die in 37,60 Sekunden Silber gewonnen haben?

Julian Reus:

Ich weiß nicht, wie die Japaner trainieren. Damit ist ihre Leistung für mich schwer einzuschätzen. Natürlich ist Sprint ein Highlight der Leichtathletik und er kann überall ausgeübt werden. Die Durchschnittszeit der zehn schnellsten Japaner über 100 Meter liegt bei 10,10 Sekunden. Wie sie das machen, weiß ich nicht. Dazu kommen noch Wechsel der Nationalität, die im Sprint noch nicht so häufig sind, sich in den nächsten Jahren aber auch auf die Staffel auswirken können. Katar oder Bahrain haben schon aufgerüstet.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Julian Reus:

Man darf sich keinen einzelnen fehlenden Prozentpunkt erlauben. Man muss bei 110 Prozent sein. Hundertstel entscheiden, ob man eine Runde weiterkommt. Und um diese Hundertstel prügeln sich teilweise 20 Athleten oder in der Staffel vier bis fünf Nationen. Das muss uns für die nächsten Meisterschaften bewusst sein. Wir werden dort versuchen, noch drei, vier Prozentpunkte mehr herauszuholen.

Kann sich der DLV auf diesem Weg etwas von Nationen wie Japan oder China abschauen?

Julian Reus:

Das zu beurteilen ist nicht meine Aufhabe, sondern die der Trainer und Wissenschaftler. Ich als Athlet kann nur mein Bestes geben. Man muss aber schon sagen: Wir müssen einen Schritt nach vorne machen. Sonst wird es auch in der Staffel schwierig sein, in Zukunft wieder in Finals zu kommen. Wir müssen uns in unseren Einzelzeiten verbessern. Nur so werden wir auch in der Staffel den nächsten Schritt machen, um wieder Anschluss zu finden.

Ist die aktuelle DLV-Staffel in der Lage, unter 38 Sekunden zu laufen?

Julian Reus:

Eine Zeit unter 38 Sekunden ist schon seit 2012 möglich. Wir haben es aus verschiedensten Gründen noch nicht geschafft. Dafür ist man auf vier Leute angewiesen. Mal stimmt ein Wechsel nicht, mal die Form oder die Bedingungen. Ein perfekter Tag muss her. All das zu wissen, macht es nicht unbedingt einfacher, es dann auch zu tun. Nichts desto trotz bin ich überzeugt, dass wir mit den Sprintern, die wir im Moment haben, Richtung 2020 auch in der Lage sind, unter 38 Sekunden zu laufen.

Blicken wir noch einmal auf Ihre persönlichen Leistungen. Sie sind in diesem Jahr insgesamt fünf Mal deutschen Rekord gelaufen, dreimal in der Halle und zweimal draußen. Besser geht es nicht, oder?

Julian Reus:

Doch. Es geht immer besser. Ohne diesen Anspruch bräuchte ich die nächste Saison nicht angehen. Es gibt immer Potenzial. Ich werde mich erst einmal sammeln, zur Ruhe kommen und für mich analysieren, an welchen Stellschrauben ich noch drehen kann. Ich bin überzeugt, dass die 10,01 Sekunden für mich noch schlagbar sind. Das wird das Ziel sein für die nächsten Jahre.

Wollen Sie auf dem Weg zu diesem Ziel etwas verändern, um einen neuen Reiz zu setzen? Oder bleibt im Training alles beim Alten?

Julian Reus:

Ich bin bei 10,01 angekommen. Da kann man nicht das komplette System über den Haufen werfen. Es ist schon in den letzten Jahren unsere Philosophie gewesen, einzelne Bausteine zu verändern. Zehn bis 15 Prozent des Trainings werden verändert, der Rest bleibt gleich. Das wird weiter unsere Strategie sein. Ich kann meinen Körper nicht mit einem neuen System belasten. Das würde er nicht schaffen. Deshalb werde ich mich in meinem gewohnten Rahmen neu sortieren und schauen, an welchen Stellen ich mich verbessern kann. Es geht um Feinheiten. Die Ansatzpunkte werde ich im Gespräch mit Trainer, Biomechaniker und Physiotherapeut herausarbeiten. Aber erst nach meinem Urlaub.

Wie blicken Sie auf das kommende Jahr? Bei der Hallen-EM in Belgrad hätten Sie eine Bronzemedaille zu verteidigen, oder lassen Sie es nach dem Olympiajahr etwas ruhiger angehen?

Julian Reus:

Der genaue Plan steht noch nicht. Erst einmal werde ich zwischen Oktober und Dezember einen Bundeswehr-Lehrgang absolvieren. Ich muss schauen, wie ich in dieser Zeit trainieren kann und dann entscheiden, welche Qualität die Hallensaison haben wird. Ob ich überhaupt eine mache oder eventuell eine verkürzte. Das wird sich im Januar herausstellen.

Das nächste ganz große Ziel ist die Heim-EM 2018 in Berlin?

Julian Reus:

Erst einmal steht 2017 an. Es ist auf jeden Fall ein Jahr, in dem ich etwas ausprobieren kann. In dem ich im Training etwas mutiger sein kann, genauso in der Planung und auch in den Wettkämpfen. Damit ist kein Übergangsjahr gemeint, sondern ein Jahr um zu testen. Das ist ein Unterschied. Und langfristig ist dann natürlich 2018 ein Highlight.

Und bei Olympia 2020 in Tokio sind Sie auch noch dabei?

Julian Reus:

Da bin ich 32. So lange kann ich auf jeden Fall noch weitermachen.

Mehr: 

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