Am Mittwoch sind die Paralympischen Spielen in Rio de Janeiro (7. bis 18. September) eröffnet worden. Im Interview äußert sich die frühere Speerwurf-Weltmeisterin Steffi Nerius, Mitglied im Gutachterausschuss der Deutschen Sporthilfe und Trainerin paralympischer Leichtathleten, über ihre Erwartungen an die Spiele, den Sinn von gemeinsamen Wettkämpfen behinderter und nichtbehinderter Athleten sowie zum Vergleich der Förderung von olympischen und paralympischen Athleten.
Steffi Nerius, was erwarten Sie von den Paralympischen Spielen in Rio de Janeiro?
Steffi Nerius:
Rein vom Sportlichen erhoffe ich mir von „meinen“ beiden Athleten eine Medaille. Bei Markus Rehm muss schon viel passieren, dass er im Weitsprung nicht die Goldmedaille gewinnt. Das ist sein und auch mein Anspruch. Auch für Franziska Liebhardt habe ich große Medaillenhoffnungen, im Kugelstoßen und im Weitsprung. Aber es sind ihre ersten Paralympics, da strömen natürlich viele Eindrücke auf sie ein, das muss sie erst einmal verarbeiten. Außerdem bin ich noch Blocktrainerin für die Wurf-, Sprint- und Sprungdisziplinen beim Deutschen Behindertensportverband und hoffe natürlich, dass alle weiteren Athleten die gute Form, in der sie sind, auch im Wettkampf abrufen können. Für die Leichtathleten bin ich sehr optimistisch, dass wir in Rio sehr gut abschneiden werden.
Was erhoffen Sie sich für eine Atmosphäre?
Steffi Nerius:
Ehrlich gesagt, erwarte ich momentan gar nichts. Ich fahre nicht wirklich mit Vorfreude hin, eher mit negativen Gefühlen. Es gab im Vorfeld zu viele Berichte über Probleme, über Einsparungen im Bereich Sicherheit, Shuttle, Essen in der Mensa. Das wäre sehr schade für die Athleten, die sich vier Jahre und länger auf die Paralympics vorbereitet haben. Markus hat überragende Spiele in London erlebt, das wird wahrscheinlich ohnehin nie mehr zu toppen sein. Aber für Franzi sind es die ersten, und sie hat das wirklich verdient. Ich hoffe, es wird besser, als ich es im Moment denke. Aber hier wird der Unterschied zu den Olympischen Spielen sehr deutlich. Markus hat es kürzlich richtig angesprochen: Warum muss das Feuer nach den Olympischen Spielen erst erlöschen, und dann kommen die Paralympics 14 Tage später quasi wieder aus dem Nichts? Man sollte die Olympischen mit den Paralympischen Spielen näher zusammenbringen, warum zum Beispiel nicht mit einem symbolischen Staffellauf?
Befürworten Sie auch gemeinsame Wettbewerbe, bei denen behinderte und nichtbehinderte Athleten parallel gegeneinander antreten, die Leistungen aber getrennt voneinander gewertet werden? Gerade Markus Rehm hat ja lange dafür gekämpft, auch bei Wettbewerben der Nichtbehinderten antreten zu können.
Steffi Nerius:
Für Markus wäre das sicherlich eine tolle Sache, weil er mit seinen Weiten bei den Nichtbehinderten mithalten kann. Aber er ist da eine Ausnahme, den allermeisten Athleten würde man damit keinen Gefallen tun. Das ist auch gar nicht das Ziel des paralympischen Sports. Schauen Sie sich zum Beispiel Vanessa Low an, die mit ihrer Zeit über 100 Meter deutlich unter 16 Sekunden in ihrer Startklasse zur absoluten Weltklasse gehört. Aber bei den Olympischen Spielen würde sie mit einem Abstand von fünf Sekunden ins Ziel kommen, das wäre sicherlich nicht hilfreich und nicht zielführend. Ob man Olympische und Paralympische Spiele zur selben Zeit ausrichten könnte? Das stelle ich mir aus logistischer Sicht sehr schwierig vor, wäre aber ganz interessant. Aber da bin ich kein Experte.
In den letzten Jahren hat sich bereits sehr viel getan in der öffentlichen Wahrnehmung der Paralympics, was sich u.a. in der Berichterstattung ausdrückt. Die öffentlich-rechtlichen Sender werden umfangreich die Paralympics übertragen.
Steffi Nerius:
Ja, das ist unglaublich. Ich bin seit 2002 Trainerin im Behindertensport. Es ist der Hammer, was seit der Zeit passiert ist. Einerseits auf Seiten der Medien, der PR oder bei der Erhöhung der Prämien, aber es ist auch viel im Behindertensport selbst passiert. Früher stand meist das Schicksal der Athleten im Vordergrund, heute ist es die Leistung. Und das ist faszinierend.
Ist somit die Förderung paralympischer Athleten zeitgemäß? Zuletzt wurde sie schon mal als Förderung „zweiter Klasse“ tituliert. Als Mitglied im Sporthilfe-Gutachterausschuss und als Trainerin haben Sie den Einblick von zwei Seiten.
Steffi Nerius:
Es ist leider so, dass schnell vergessen wird, was früher war. Die Olympischen Spiele der Neuzeit existieren seit 1896, Paralympics gibt es seit 1960. Heide Rosendahl hat als Olympiasiegerin und als das Gesicht der Olympischen Spiele 1972 in München von der Sporthilfe Gutscheine für Schnitzel bekommen. Ein Top-geförderter Behindertensportler, der studiert, kann heute bis zu 950 Euro im Monat Förderung erhalten: 150 Euro A-Kader-Förderung, 400 Euro als Mitglied des Top-Teams und 400 Euro aus dem Deutsche Bank Sport-Stipendium. Und einem Athleten in der Nachwuchselite-Förderung stehen nochmals bis zu 4.000 Euro zusätzlich im Jahr zur Verfügung. Das ist doch hervorragend. Und alles entwickelt sich weiter.
Die Medaillenprämien wurden bereits an die Prämien der Nichtbehinderten angepasst.
Steffi Nerius:
Das war ein wichtiges Signal für den Behindertensport, das wir vor den Winterspielen in Sotschi 2014 gesetzt haben. Es gibt sehr viele Disziplinen, bei denen paralympische Sportler den gleichen Aufwand betreiben müssen wie olympische, um erfolgreich zu sein. Da ist die Konkurrenzdichte sehr hoch und somit sind die Prämienzahlungen absolut gerechtfertigt. Allerdings werden bei den Paralympics keine Prämien für die Plätze vier bis acht ausbezahlt. Denn man muss auch sehen, dass in manchen Disziplinen die Breite noch nicht so vorhanden ist. Es gibt Disziplinen, in denen die Athleten direkt im Endlauf bzw. Endkampf sind. Heißt, die Athleten sind ohne Vorkampf bzw. Vorlauf direkt im Finale. Aber noch einmal: Die Entwicklung im Behindertensport in den vergangenen Jahren ist der Hammer! Und wir können uns auf tolle Leistungen unserer deutschen Athleten in Rio freuen.