| Leichtathletik-Geschichte

9,58 Sekunden: Usain Bolts Fabel-Weltrekord wird zehn Jahre alt

Kein anderer Sportler hat die Leichtathletik in der jüngeren Vergangenheit so geprägt wie Usain Bolt. Seine Sprint-Weltrekorde thronen unangefochten ganz oben in der Bestenliste. Heute vor zehn Jahren lief der Jamaikaner die 100 Meter in 9,58 Sekunden. leichtathletik.de blickt zurück auf das Rekordrennen bei der WM 2009 in Berlin und eine einzigartige Karriere.
Martin Neumann

Als Usain Bolt heute vor zehn Jahren zum Megafon greift, ist Nahkampferfahrung gefragt. In Zehnerreihen drängeln sich die Journalisten an den Absperrgittern in den Katakomben des Berliner Olympiastadions. In der Mixed-Zone der Leichtathletik-WM 2009 wabert an diesem späten Sonntagabend eine Geruchsmischung aus Schweiß und dem feuchtem, aufgeheizten Kunststoffboden. Noch immer zeigt das Thermometer weit über 20 Grad, deutlich über 30 Grad waren es am Nachmittag des 16. August 2009 in der deutschen Hauptstadt.

Wer ganz vorn steht, kann kaum seinen Stift zücken. So eng ist es. Denn Hunderte Journalisten wollen vom schnellsten Menschen aller Zeiten wissen, wie er das gerade angestellt hat: 100 Meter in 9,58 Sekunden zu laufen und seinen eigenen Weltrekord um elf Hundertstelsekunden zu verbessern.

Solch eine enorme Weltrekord-Steigerung gab es noch nie, seit die Sprintzeiten von 1968 an nur noch elektronisch ermittelt werden. An diesem Tag hat Usain Bolt vor 51.113 Zuschauern Sportgeschichte geschrieben. Der Weltrekord besteht noch immer. Mit Tyson Gay (USA) und Bolts jamaikanischen Landsmann Yohan Blake, die beide im Laufe ihrer Karriere Dopingsperren absitzen mussten, blieben überhaupt nur zwei andere Sprinter mit 9,69 Sekunden unter der 9,70-Sekunden-Marke.

Usain Bolts erstes WM-Triple, zwei weitere folgen

Schnell wird klar, dass an diesem besonderen Abend auch das prompt von der WM-Organisation bereitgestellte Megafon nicht ausreicht. Alle weiteren Fragen werden dem Rekordsprinter im Rahmen der großen Pressekonferenz gestellt. Es sollten in Berlin weitere folgen: nach dem 200-Meter-Weltrekord von 19,19 Sekunden vier Tage später und dem Triumph mit der Sprintstaffel Jamaikas in 37,31 Sekunden weitere zwei Tage danach. Doch über allem strahlen die 9,58 Sekunden. Ein Rekord womöglich für die Ewigkeit. „Ich möchte eine Legende werden“, sagte Usain Bolt damals nach seinem ersten Gold-Triple bei Weltmeisterschaften. Zwei weitere folgten, 2013 und 2015.

Usain Bolt gelang im Alter von 22 Jahren und 360 Tagen das wahrscheinlich perfekte Sprint-Rennen. Um 21:44 Uhr bei einer optimalen Sprint-Temperatur von 26 Grad und 39 Prozent Luftfeuchtigkeit legt der später achtmalige Olympiasieger bei Rückenwind (+0,9 m/sec) einen gelungenen Start hin. Nach einer für seine Körpergröße von 1,96 Metern schnellen Reaktionszeit von 0,146 Sekunden ist er schon nach 20 Metern im WM-Finale vorn. Mit 2,88 Sekunden liegt er auf Bahn vier bereits zwei Hundertstel vor Richard Thompson (Trinidad & Tobago) auf Bahn acht, drei Hundertstel vor seinem Landsmann Asafa Powell, der am Ende mit 9,84 Sekunden Dritter werden sollte und vier Hundertstel vor Tyson Gay (9,71 sec; Zweiter in US-Rekord). Nur 41 Schritte benötigte der Weltrekordler vom Start bis ins Ziel. <link https: www.youtube.com>(Das Rekord-Rennen im Video.)

Der Premierminister gratuliert direkt nach dem Rekord-Rennen

„Ich war bereit für diesen Weltrekord und ich bin stolz, dass ich es geschafft habe, ihn zu brechen. Das ist sicher ein großer Moment in der Leichtathletik-Geschichte und auch für Jamaika“, sagte Usain Bolt nach dem Rennen, das seine Eltern im Stadion verfolgten. Einer der ersten Gratulanten war übrigens Jamaikas Premierminister. Bruce Golding griff in der Heimat nach dem Rekordrennen sofort zum Telefon und übermittelte dem berühmtesten Jamaikaner nach Bob Marley seine Glückwünsche stellvertretend für eine ganze stolze Nation.

Die Biomechaniker ermittelten, dass Usain Bolt beim Rekord-Rennen in allen 20-Meter-Abschnitten der Schnellste war. Ab etwa 30, 35 Metern scheint er sich spielend von der Konkurrenz zu lösen. Als wäre es der Vorlauf eines kleinen Meetings, nicht das WM-Finale mit den besten Sprintern der Welt. Für den Abschnitt zwischen 60 und 80 Metern wurden phänomenale 1,61 Sekunden für Usain Bolt gestoppt. Die 60-Meter-Marke passierte er nach 6,31 Sekunden.

Zum Vergleich: Der Hallen-Weltrekord über 60 Meter von Maurice Greene lag damals bei 6,39 Sekunden. Mittlerweile hat Christian Coleman (beide USA) diesen in der leistungsfördernden Höhe von Albuquerque auf 6,34 Sekunden gesteigert. Noch immer drei Hundertstel langsamer als Usain Bolt in Berlin.

Top-Speed: 44,72 km/h

Seine Höchstgeschwindigkeit erreichte Usain Bolt in Berlin bei 67,90 Metern. Er beschleunigte damit noch fast 15 Meter weiter als die Konkurrenz, deren Top-Speed schon nach 54 Metern (Powell) und 55 Metern (Gay) erreicht war. Apropos Top-Speed: 44,72 km/h wurden für Usain Bolt auf der blauen Bahn des Olympiastadions gemessen. Eine nackte Zahl. Doch man schließe nur kurz die Augen und stelle sich vor, wie ein Radfahrer mit knapp 45 km/h an einem vorbeirast.

Usain Bolt hat die Leichtathletik geprägt wie kaum ein Athlet vor ihm. Für den Jamaikaner war das Stadion stets eine Bühne. Oft begeisternd, manchmal arrogant vollführte er seine Show bis zur WM 2017 in London, als er wenige Tage vor seinem 31. Geburtstag als Staffel-Schlussläufer im WM-Finale verletzt aufgeben musste. Eine Woche zuvor hatte er noch einmal WM-Bronze über 100 Meter gewonnen. Doch Körper und Geist waren müde von 15 Jahren Leistungssport.

Das härteste Rennen als 15-Jähriger

Wenn Usain Bolt über sein härtestes Rennen spricht, meint er kein Olympia- oder WM-Finale. Es sind die U20-Weltmeisterschaften 2002 in seiner Heimatstadt Kingston. 35.000 Fans im proppenvollen Nationalstadion der jamaikanischen Hauptstadt brüllen den Namen eines 15-Jährigen. Der in Trelawny im Norden der Insel in einfachen Verhältnissen aufgewachsene Schlacks rennt ein wenig ungestüm durch die Kurve, doch am Ende läuft er der Konkurrenz im 200-Meter-Finale mit 20,61 Sekunden davon. Mit 15 Jahren und 332 Tagen wird er zum bis dahin jüngsten U20-Weltmeister aller Zeiten.

Dass dort ein ganz besonderer Athlet zum Titel lief, war Till Helmke (TSV Friedberg-Fauerbach) bewusst. Der amtierende Hessen-Rekordler über 200 Meter (20,37 sec) wurde im Finale von Kingston mit 21,10 Sekunden Siebter. „Wenn jemand eine solche Zeit rennt und sich klar gegen Athleten durchsetzt, die einige Jahre älter sind, dann muss der Sportler ein enormes Potenzial haben“, sagt der Olympia-Vierte von Peking über 4x100 Meter rückblickend.

Handshake vor dem U20-WM-Finale

Und noch eine andere Begebenheit ist dem heute 35-Jährigen in Erinnerung geblieben: der Sportsmann Usain Bolt. „Er hat vor dem Finale im Callroom jedem Konkurrenten die Hand gegeben und ihm Glück gewünscht. Das habe ich weder zuvor noch danach erlebt. Das mag es bei Zehnkämpfern geben. Aber unter Sprintern ist das absolut unüblich.“

Noch nach seiner Jugendzeit galten die 200 Meter über Jahre als Usain Bolts Spezialstrecke. Sein Trainer Glen Mills glaubte, dass sein Schützling aufgrund seiner Größe die 200 und 400 Meter laufen sollte. Doch Usain Bolt sträubte sich gegen das harte Training für die Stadionrunde. Er wollte lieber die 100 Meter probieren. Coach Mills gab grünes Licht. Schon im vierten ernsthaften 100-Meter-Rennen lief der Jamaikaner am 31. Mai 2008 in New York mit 9,72 Sekunden Weltrekord. Den steigerte er am 16. August 2008 mit offenem Schuhband bei den Olympischen Spielen in Peking auf 9,69 Sekunden. Exakt ein Jahr später folgt der unvergessene Rekordlauf von Berlin. 9,58. Drei Ziffern für die Sprint-Ewigkeit.

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