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Die unglaubliche Geschichte des Thiago Braz da Silva

Bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro hat der junge Brasilianer Thiago Braz da Silva, der bald beim ISTAF (3. September) in Berlin starten wird, im Stabhochsprung überraschend den Favoriten aus Frankreich Renaud Lavillenie bezwungen. Auch wenn der 22-Jährige mit einem Sprung über 6,03 Meter einen neuen olympischen Rekord aufstellte, war in der Nacht des 16. August nicht alles Gold, was glänzte.
Nicolas Trinklein

Es war ein Stabhochsprung-Finale auf höchstem Niveau, das sich Thiago Braz da Silva und Renaud Lavillenie im Olympiastadion von Rio lieferten. Nachdem der Wettkampf wegen strömenden Regens um rund eine Stunde verschoben wurde, kam es zur Flugschau über mehrere Stunden. Der Franzose übersprang im Finale ohne jede Schwäche die 5,98 Meter. Nie zuvor war jemand bei Olympischen Spielen so hoch geflogen.

Thiago Braz da Silva hatte dagegen Schwierigkeiten überhaupt das Finale zu erreichen. In der Qualifikation hatte er zunächst zweimal die 5,45 Meter gerissen und stand vor dem Aus. Die Brasilianer, sie feuerten ihren Landsmann an — und der zeigte an diesem Abend plötzlich den Wettkampf seines Lebens. Aus taktischen Gründen verzichtete er auf die 5,98 Meter, da er die Silbermedaille schon sicher hatte, und wagte sich an die 6,03 Meter. Er lief an, sprang und ließ die Latte oben. Persönliche Bestleistung um elf Zentimeter gesteigert. Südamerikanischer und olympischer Rekord. Goldmedaille.

"Ich bin sehr glücklich, für Brasilien ist das überragend", sagte da Silva, der zum ersten Stabhochsprung-Olympiasieger des Landes überhaupt wurde und das erste Männer-Gold in der Leichtathletik für die Nation seit 32 Jahren gewann. 1984 hatte zuletzt Joaquim Cruz über 800 Meter triumphiert. Doch der Triumph über den französischen Weltrekordler (6,16 m) wurde zum riesigen Aufreger.

Brasilianer buhen Lavillenie aus – unfair oder normal?

„Einige Dinge waren einfach nicht Olympia-würdig“, sagte Lavillenie über die brasilianischen Fans, die ihn bei all seinen Versuchen lautstark ausbuhten. "Wir sehen so etwas im Fußball. Es ist das erste Mal, dass ich es in der Leichtathletik erlebt habe", sagte der Franzose verärgert. Und genau daher kam es.

Fast alle Brasilianer haben im Fußballstadion gelernt, Fan zu sein. Hier versucht man seinem Team zu helfen, indem man den Gegner niedermacht. Das gehört zum guten Ton. Das nennt man Heimspiel-Atmosphäre. Die Brasilianer haben das einfach auf die Wettbewerbsatmosphäre bei Olympia übertragen. So etwas passiert, wenn der Weltsport neue Welten erschließt.

Nach übersprungenen 5,98 Meter scheiterte Lavillenie zweimal an 6,03 Meter und einmal an 6,08 Meter. Vor seinem letzten Versuch senkte er den Daumen für die Zuschauer. Bronze gewann Sam Kendricks für die USA (5,85 m). Der frisch gebackene Olympiasieger schwärmte auf der anderen Seite von den Zuschauern, die ihn beflügelt hätten: „Ich hoffe, dass ich den Brasilianern etwas Freude bereitet habe.“

Der schwere Weg des Brasilianischen Volkshelden

Der Athlet weiß, dass es im Land des Samba nicht immer einfach ist, Freude zu haben. Geboren in Marília im Bundesstaat São Paulo, hat ihn seine eigene Mutter schon früh verlassen, weshalb Thiago Braz da Silva von seinen Großeltern aufgezogen wurde. 

Laut der Neuen Züricher Zeitung brachte seine sportliche Patentante, die Stabhochsprung-Weltmeisterin von 2007 Fabiana Murer (Brasilien), den damals 20-Jährigen 2014 nach Italien, um dort von Vitali Petrov trainiert zu werden. Er hatte 1988 schon die Stabhochsprung-Legende Sergey Bubka zum Olymp geführt. Da Silva nennt Petrov seinen „Adoptivvater“, wie das Portal „O Globo“ berichtet. Aber sein großes Vorbild ist der ukrainische Olympiasieger Bubka, der in der Nacht des 16. August zu einem seiner ersten Gratulanten gehörte.

Im Nachhinein keine wirkliche Überraschung

So ganz überraschend war das starke Abschneiden von Thiago Braz da Silva im Nachhinein dann doch nicht. Im Jahr 2012 siegte er bei den U20-Weltmeisterschaften in Barcelona (Spanien) mit 5,55 Metern. Durch stetige Steigerungen seiner Bestleistung sprang er 2014 bei den Hallen-Weltmeisterschaften über 5,75 Meter auf Platz vier. Im Februar diesen Jahres überflog er beim ISTAF Indoor in Berlin 5,93 Meter, wo er Lavillenie schon einmal auf den zweiten Platz verwies, und stellte einen neuen südamerikanischen Rekord auf.

Dass der frisch gebackene Volksheld so stark abschneidet, über 6,03 Meter springt und Olympiasieger wird, war natürlich doch für viele eine Überraschung. Ob da Silva den Franzosen ein drittes Mal schlagen kann, wird man sehen. Zunächst startet der brasilianische Shooting-Star am 3. September beim 75. ISTAF in Berlin.

Weniger als 10.000 Menschen im Olympiastadion

Wie über die ganzen Spiele hinweg, waren an jenem – für die Leichtathletik Brasiliens historischen Abend – nicht viele Plätze im Estádio Olímpico João Havelange besetzt. „Nicht viele“ ist noch schön ausgedrückt, es waren weniger als 10.000 Menschen gekommen. Jeder Zuschauer hätte sechsmal seinen Platz wechseln können und noch immer wäre nicht jeder Sitz im Stadion von einem Hintern berührt worden.

Trotzdem gelang es dem Publikum nach dem Sieg von Da Silva eine überragende Stimmung zu erzeugen und sie brüllten lautstark „Thiago, Thiago, Thiago!“. Der 22-Jährige weinte auf seiner Ehrenrunde und man kann sich nur vorstellen, was los gewesen wäre, wenn deutlich mehr Leute das Olympiastadion besucht hätten. Die Leichtathletik kann noch mehr Sensationen bieten als den 100-Meter-Lauf der Männer. Sie hat Energie, Vibe, Hype  — und im richtigen Moment einen Brasilianer, der höher springt als sechs Meter.

Mehr:

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