
Mein Moment 2018 – Sein letzter Schrei
Kaum zu fassen: Das EM-Jahr 2018 ist schon fast Geschichte! So vieles ist passiert in den vergangenen Monaten. Manches scheint schon so weit weg, anderes ist präsent, als wäre es gestern passiert. Wir wollen das Jahresende dazu nutzen, auf Highlights zurückzublicken. Aus einer ganz persönlichen Perspektive, für die in all unseren News und Geschichten bisher kein Platz war. Heute im Fokus: Robert Hartings Karriereende am 2. September beim ISTAF in Berlin.
Robert Harting schreit mich an. Jeden Tag. Denn jeden Tag fällt mir auf meinem Schreibtisch die Werbe-Postkarte vom ISTAF 2018 mit dem Bild des schreienden Diskuswurf-Olympiasiegers ins Auge. Ich konnte mich auch mehr als drei Monate nach dem ISTAF noch nicht dazu durchringen, die Karte die geschätzten 80 Zentimeter in den Papierkorb zu bugsieren. Warum eigentlich nicht?
Vermutlich weil Robert Harting mich durch mein fast komplettes, bisheriges journalistisches Leben begleitet hat. Angefangen vor 15 Jahren bei den Deutschen Jugendmeisterschaften in Fulda. In Zeiten, als Internet, Social Media und Selfies noch keine Rolle spielten. In Zeiten, in denen man lange und in Ruhe redete, ohne dreimal pro Minute panisch aufs Smartphone zu blicken. Über einen bei einer ungewollten Zaunüberquerung lädierten rechten Zeigefinger, der fast für das frühe Ende einer einzigartigen Karriere gesorgt hätte, oder über die anstehende U20-EM in Finnland, die für Robert Harting nach einem Bänderriss im Knöchel schon vor dem Finale beendet war. Und nun ein Ende fand eben beim ISTAF im Berliner Olympiastadion in anderen Zeiten mit seinem „letzten Schrei“.
1.042 Tage ungeschlagen
Den letzten Wurf von Robert Harting am 2. September und damit den letzten Wurf einer wohl einmaligen Karriere habe ich im Stehen verfolgt. Gänsehaut am ganzen Körper. Feuchte Augen. Ein Moment, der noch immer präsent ist. Noch einmal legte der dreimalige Weltmeister im Berliner Olympiastadion, wo seine Erfolgskarriere mit dem WM-Triumph 2009 seinen Anfang nahm, alles in diesen finalen Versuch und schob sich mit 64,95 Metern noch auf Platz zwei nach vorn.
Eine Weite, die er über viele Jahre wahrscheinlich nachts um vier auf seinem Trainingsplatz in Höhenschönhausen bei sechs Grad und fiesem Rückenwind geworfen hätte. Eine Weite, die am 2. September noch einmal zeigte, welch ein hundertprozentiger Wettkampftyp – neudeutsch würde man wohl Performer sagen – der gebürtige Cottbuser war. Eindrucksvolle Zahlen belegen das: Zwischen dem EM-Finale am 1. August 2010 in Barcelona und dem Meeting in Hengelo 1.042 Tage später am 8. Juni 2013 (in dieser Zeit kam der HSV auf fünf Trainer) blieb Robert Harting ungeschlagen. Eine außergewöhnliche Serie, zumal im Diskuswurf, wo häufig nur Zentimeter über die Plätze entscheiden und ein halbes Dutzend Werfer jederzeit für den Sieg gut sind.
Wendepunkt Kreuzbandriss
Der Wendepunkt der Erfolgskarriere ereignete sich beim Abtrainieren. Am 9. September 2014 – vier Tage nach seinem Triumph beim Diamond League Finale in Brüssel – riss sich der London-Olympiasieger das Kreuzband. Danach ging es für Robert Harting nach Erfolgen in Serie nur noch selten um Siege. Der Körper des bei der Kreuzband-OP 30-Jährigen wollte nicht mehr der alte werden. Einmal warf er noch weiter als 67 Meter. Mit beachtlichen 68,04 Metern holte er sich am 19. Juni 2016 in Kassel den heiß umkämpften DM-Titel und damit das fixe Olympia-Ticket für Rio.
Dort wurde er erneut von seinem Körper ausgebremst. Ein in der Nacht vor der Qualifikation erlittener Hexenschuss machte weite Würfe unmöglich. Die Drehungen des Diskus-Ästheten Robert Harting wirkten in Rio dadurch nicht geschmeidig-rund, sondern eher roboterhaft-eckig. Tags darauf bestieg Roberts jüngerer Bruder Christoph den Diskus-Olymp. Statistiker notieren übrigens eine 26:5-Bilanz für den älteren Bruder bei den direkten Aufeinandertreffen.
Beim „letzten Schrei“ setzte sich Rio-Olympiasieger Christoph Harting mit 65,67 zu 64,95 Metern gegen seinen älteren Bruder durch. Die Schlagzeilen danach und meine Anerkennung für eine außergewöhnliche Karriere gehörten trotzdem dem London-Olympiasieger. Robert Harting wird mich weiter anschreien. Vielleicht sogar bis zum ISTAF 2019.