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Yemisi Ogunleye – Wendepunkte führen bis in die Weltspitze

© Gladys Chai von der Laage
Bei der Hallen-DM in Leipzig haben sechs Athletinnen und Athleten erstmals einen Titel auf nationaler Ebene gewonnen. Wir stellen sie vor. Heute: Kugelstoßerin Yemisi Ogunleye (MTG Mannheim).
Jan-Henner Reitze

Yemisi Ogunleye
MTG Mannheim

Bestleistung: 

Kugelstoßen: 19,44 m (2023); 20,19 m (Halle; 2024)

Erfolge:

Silber Hallen-WM 2024
6. U20-WM 2017
7. U18-WM 2015
Deutsche Hallenmeisterin 2024

Ihre Karriere ist gekennzeichnet von Wendepunkten: Sportlich angefangen hatte Yemisi Ogunleye ursprünglich im Turnen und kam nur dadurch zur Leichtathletik. Sie zeigte großes Talent für den Mehrkampf, musste sich wegen schweren Knieverletzungen aber früh auf das Kugelstoßen konzentrieren. Neu entfacht wurde die sportliche Leidenschaft durch Einsätze bei internationalen Nachwuchsmeisterschaften in dieser Disziplin.

Das rechte Knie machte allerdings weiter Probleme und erforderte den riskanten, aber letztlich erfolgreichen Umstieg von der Angleit- zur Drehstoßtechnik. Im Training deutete sich Potential für den Anschluss an die internationale Spitze an, der gelang der Athletin der MTG Mannheim im Wettkampf aber nicht. Lohnte sich der Aufwand für den Sport unter diesen Umständen überhaupt noch? Die 25-Jährige probierte es noch einmal mit der Erweiterung ihres Trainerteams.

Dieser erneute Wendpunkt war der Schlüssel zum Durchbruch. In den zurückliegenden zwölf Monaten hat die Kugelstoßerin zuerst die 19-Meter-Marke und bei der Hallen-WM in Glasgow (Großbritannien) sogar die 20-Meter-Marke übertroffen. Die Vize-Weltmeisterin in der Halle erzielte jeweils beim Saisonhöhepunkt eine Bestleistung und ist endlich dort angekommen, wo sie immer hinwollte: In der Weltklasse im Kugelstoßen und in ihrem persönlichen Gleichgewicht. Unter diesen Voraussetzungen blickt sie mit Vorfreude auf den bevorstehenden Sommer mit EM und Olympischen Spielen.

Vom Turnen zur Leichtathletik

In ihrer Kindheit in Bellheim in Rheinland-Pfalz machte Yemisi Ogunleye Ballett und war über Jahre im Turnverein beim TV Schwegenheim auch im Wettkampfgeschehen aktiv. Die damalige Schülerin ging unter anderem im Sechskampf an den Start, zu dem neben den Turndisziplinen Boden, Barren und Sprung auch Sprint, Weitsprung und Kugelstoßen gehörten. Im Alter von 13 Jahren suchte die junge Athletin auch eine Trainingsmöglichkeit in der Leichtathletik. Die fand sich bei der TSG Hassloch und Trainer Kurt Büttler.

„Dass die Leichtathletik noch vielfältiger war als Turnen, hat mir großen Spaß gemacht“, erzählt die heutige Weltklasse-Kugelstoßerin. „Dazu kam, dass ich sehr groß war. Das habe ich nicht nur beim Turnen als Nachteil empfunden, sondern auch im Alltag. In der Leichtathletik habe ich davon profitiert.“ Alles Gründe, schließlich komplett vom Turnen zur Leichtathletik zu wechseln.

Im Kugelstoßen gehörte die damalige W14-Athletin sofort zur DLV-Spitze ihrer Altersklasse, im Siebenkampf war sie als 14. der DLV-Bestenliste des Jahres 2012 (3.549 Punkte) vorne mit dabei. In ihrem ersten U18-Jahr stieß sie die Drei-Kilo-Kugel bereits auf 16,47 Meter und belegte im Jahr 2014 bei der Jugend-DM in Wattenscheid den fünften Platz.

Zwei Kreuzbandrissen folgen zwei internationale Meisterschaften

Die Sommersaison ging allerdings mit einem Rückschlag zu Ende: Nach dem Auftakt über die Hürden bei den Deutschen Mehrkampf-Meisterschaften in Bernhausen zog sich Yemisi Ogunleye beim Hochsprung einen Kreuzbandriss zu, auch Meniskus und Knorpel am rechten Knie wurden beschädigt. Es stand infrage, ob es sportlich überhaupt weitergehen konnte.

Reha und Wiedereinstieg ins Training absolvierte die damals 16-Jährige im professionalisierten Umfeld bei der MTG Mannheim. Zur Gruppe von Iris Manke-Reimers gehörte zu diesem Zeitpunkt unter anderem Shanice Craft, die gerade ihre erste von inzwischen drei EM-Bronzemedaillen im Diskuswerfen gewonnen hatte. An der fünf Jahre älteren Athletin, die heute im Trikot des SV Halle startet, orientierte sich Yemisi Ogunleye. Wegen ihrer Verletzung war allerdings Schluss mit dem Mehrkampf und die Wurfdisziplinen rückten in den Fokus.

Nur acht Monate nach ihrem Kreuzbandriss ging die U18-Athletlin wieder in den Ring und konnte sich sogar weiter steigern. Ihr gelang die Qualifikation für die U18-WM in Cali (Kolumbien) und dort der siebte Platz. „Ich weiß noch, dass mir Tränen über die Wange gelaufen sind, als ich zur Qualifikation ins volle Stadion eingelaufen bin. Ich wurde von Menschen bejubelt, die mich gar nicht kannten. Athletinnen aus allen Teilen der Welt haben die gleiche Leidenschaft geteilt wie ich. Das hat nochmal eine Menge Motivation in mir geweckt.“ Mit dem U18-Titel bei der Jugend-DM in Jena mit Bestleistung (17,31 m) ging die Saison erfolgreich zu Ende.

So schnell die Rückkehr in den Wettkampf gelang, so schnell kam auch der nächste Rückschlag. Kurz nach den ersten Wettkämpfen in der Hallensaison 2016 mit der Vier-Kilo-Kugel riss das Kreuzband erneut. Wieder hieß es Reha und diesmal ein komplettes Jahr Wettkampfpause. Danach stellten sich im zweiten U20-Jahr wieder Erfolge ein, unter anderem die Bestleistung von 16,04 Metern, zweimal Bronze bei der Jugend-DM drinnen und draußen sowie Rang sechs bei der U20-EM in Grosseto (Italien). Es hatte sich also gelohnt, trotz der wiederholten Verletzung am Sport festzuhalten.

Umstellung auf Drehstoßtechnik

In ihren U23-Jahren konnte Yemisi Ogunleye, die zu dieser Zeit auch im Diskuswerfen an den Start ging, ihre Leistung steigern, im Kugelstoßen bis auf 17,36 Meter. Allerdings waren andere Konkurrentinnen im DLV noch stärker, unter anderem Alina Kenzel (VfB Stuttgart), Katharina Maisch (LV 90 Erzgebirge) und Julia Ritter (TV Wattenscheid 01), die zum Beispiel bei der U23-EM 2019 in Gävle (Schweden) einen deutschen Dreifach-Sieg einfuhren.

Da sie einen neuen Impuls suchte, auch mit Blick auf das immer noch Probleme bereitende Knie, entschied die Mannheimerin gemeinsam mit ihrer Trainerin, von der Angleittechnik zum Drehstoß zu wechseln, unter anderem mit Unterstützung von Khalid Alqawati. Bei der Umstellung kamen der Athletin ihre Erfahrungen und ihr Bewegungsgefühl aus dem Turnen, Ballett und Mehrkampf zugute.

Im ersten Wettkampfjahr mit der neuen Technik 2021 flog die Kugel zwar nicht immer auf eine gute Weite. Vor allem der Ausrutscher nach oben bei der DM in Braunschweig auf 18,13 Meter zeigte aber, dass die Veränderung Erfolg versprach. Nebenbei gab es für diese Leistung die zweite DM-Bronzemedaille in der Frauenklasse nach 2020.

Knoten will nicht platzen

Im Jahr 2022 zeigten im Training regelmäßige Stöße über die 18-Meter-Marke, dass Yemisi Ogunleye ein Niveau erreicht hatte, um in die Vergabe der Startplätze für die WM und die Heim-EM in München einzugreifen. Aber im Wettkampf flog die Kugel nicht so weit. Erneut kamen Zweifel auf. „Ich wollte es unbedingt, musste aber einsehen, dass ich keine Maschine bin.“

Weil eine Bewerbung bei der Landespolizei mit Verweis auf ihr vorgeschädigtes Knie abgelehnt worden war, hatte die Kugelstoßerin neben dem Sport ein Studium in Sonderpädagogik begonnen. Unter anderem während ihrer verletzungsbedingten Zwangspausen hatte sie Interesse für andere Hobbys entdeckt, wie zum Beispiel Musik. Schon lange fühlte sie sich auch in ihrer christlichen Gemeinde, der Christ Gospel City-Church in Karlsruhe, zu Hause, die ihr genauso Halt gab wie der Sport. Unter anderem darüber spricht die Hallen-Vize-Weltmeisterin auch in unserem Podcast #TrueAthletes – TrueTalk.

Und auch das leidige Thema Knie begleitete sie noch immer. „Ich hatte keine Trainingswoche, in der mein Knie nicht angeschwollen ist. Ich konnte kein für Werfer übliches Krafttraining machen, habe bei jeder Treppe Schmerzen gespürt und wenn ich mit Freunden durch die Stadt gelaufen bin, war ich diejenige, die nach zehn Minuten eine Pause brauchte.“ Kein Wunder, dass sich die 25-Jährige unter diesen Umständen fragte, ob sie die Leichtathletik an den Nagel hängen sollte und damit mehr Zeit für andere Dinge hätte, die ihr Freude bereiteten.

Nächste Veränderung schlägt an

Aber die Leidenschaft für den Sport war so groß, dass Yemisi Ogunleye noch einmal eine Veränderung anging, um doch noch die Leistung abzurufen, von der sie überzeugt war, dass sie in ihr schlummerte. Gemeinsam mit Iris Manke-Reimers, zu der inzwischen ein enges Vertrauensverhältnis entstanden war, holte die Athletin Sportwissenschaftlerin Mareike Rittweg vom Olympiastützpunkt in Heidelberg und Bundesstützpunkttrainer Artur Hoppe aus Stuttgart in ihr Betreuungsteam. Beide waren selbst als Leistungssportler in der Leichtathletik aktiv gewesen und genau auf dem Gebiet Experten, in denen Yemisi Ogunleye Optimierungsbedarf sah.

Die frühere Speerwerferin Mareike Rittweg ist auf Krafttraining und Verletzungs-Prävention spezialisiert. Mit ihr ging es noch einmal in eine Reha für das lädierte Knie. Schon nach kurzer Zeit brachte der neue Ansatz Besserung. „Ich bin im Alltag schmerzfrei, kann länger zu Fuß gehen und mittlerweile auch echtes Krafttraining machen.“ Damit das so bleibt, widmet sich die Hallen-Vize-Weltmeisterin nach wie vor zweimal pro Woche zwei Stunden lang ihrem Knie.

Artur Hoppe, bis 2015 selbst als Drehstoßer aktiv, nahm sich der technischen Details an. Einmal pro Woche fährt Yemisi Ogunleye für zwei Einheiten zu ihm an den Bundesstützpunkt nach Stuttgart, wo sie unter anderem mit dem Deutschen Hallenmeister Silas Ristl (LAC Essingen) trainiert. „Nicht nur die neuen Trainingsinhalte haben mir weitergeholfen, sondern auch, dass ich wieder mit neuen Leuten in Kontakt gekommen bin, mit denen ich die gleiche Leidenschaft teile.“

Puzzle fügt sich doch noch zusammen

Eine Bestätigung, an ihrem Weg im Sport festzuhalten, war auch die Aufnahme in die Sportfördergruppe der Bundeswehr. Diese gibt zusätzliche Absicherung. Außerdem ist der Bachelor in Sonderpädagogik seit Anfang des Jahres abgeschlossen, womit die langjährige Doppelbelastung aus Sport und Studium weggefallen ist.

Und so wurde es möglich, dass die Kugel im vergangenen Sommer in Rehlingen erstmals über die 19-Meter-Marke flog. Aus der Qualifikation der WM in Budapest (Ungarn) stammt die aktuelle Freiluft-Bestleistung von 19,44 Metern. Im Finale gingen 18,97 Meter und Rang zehn in die Ergebnisliste ein. Die zurückliegende Hallensaison begann in Nordhausen mit der nächsten Bestleistung (19,57 m). Es folgte der erste DM-Titel in der Frauenklasse in Leipzig (18,91 m). Bei der Hallen-WM fiel die nächste Schallmauer und 20,19 Meter bedeuten die für viele überraschende Silbermedaille. „Das Puzzle hat sich zusammengefügt.“

Vorfreude auf einen aufregenden Sommer

Wenn sie heute im Ring steht, nimmt Yemisi Ogunleye all ihre Erfahrungen aus den vergangenen Jahren mit, die guten und die schlechten. Sie haben sich zu einem Gleichgewicht zusammengefügt, das die Deutsche Hallenmeisterin zu schätzen weiß. „Ich habe großes Vertrauen in meine Trainerin Iris Manke-Reimers, die es versteht, mich zum Saisonhöhepunkt in den bestmöglichen körperlichen Zustand zu bringen.“

Den Wettkampf empfindet sie nicht mehr als Drucksituation, in der sie beweisen muss, dass sich die harte Trainingsarbeit auszahlt, sondern als Chance, sich dafür zu belohnen. „Ich weiß auch, dass die Welt nicht untergeht, wenn es nicht klappt.“ Tief in ihrem Herzen bleibt die Überzeugung, dass große Leistungen möglich sind.

Ihren eingeschlagenen Weg möchte die Vize-Weltmeisterin in der Halle in Richtung Sommer weiterverfolgen. „Wir ändern nichts, feilen weiter an der Technik und versuchen, das Kraftlevel noch zu steigen.“ Mit der EM in Rom (Italien; 7. bis 12. Juni) und den Olympischen Spielen in Paris (Frankreich; 1. bis 11. August) bietet der Sommer gleich zwei internationale Höhepunkte. „Das wird aufregend. Ich habe wie immer den Anspruch, auf den Punkt da zu sein und mich so weit wie möglich vorn zu platzieren. Ich bin voller Vorfreude auf das, was kommt.“

Video-Interview: Yemisi Ogunleye: "Die Unterstützung hier bedeutet mir die Welt"
Video: Yemisi Ogunleye drückt der Kugelstoß-Party ihren Stempel auf

Das sagt Bundestrainer Wilko Schaa:

Yemisi ist schon lange in der nationalen Spitze dabei, hat im Nachwuchsbereich an internationalen Meisterschaften teilgenommen. Allerdings stand sie lange auch in der zweiten Reihe. Schon vor ihrem Leistungsschub im vergangenen Jahr hat sich allerdings angedeutet, dass sie weiter stoßen kann. In Leistungsdiagnostiken hat sich Yemisi kontinuierlich gesteigert und oft auch die besten Werte der Kaderathletinnen gezeigt. Ihre körperlichen Voraussetzungen für das Kugelstoßen stimmen, abgesehen von ihrem Knie. Das hat sie auch dank ihrer Zusammenarbeit mit Mareike Rittweg in den Griff bekommen. Entscheidend für den Durchbruch waren technische Impulse, die Artur Hoppe in Stuttgart gegeben und Iris Manke-Reimers mit all ihrer Erfahrung gefestigt hat

Damit waren die Weichen dafür gestellt, dass Yemisi ihr Potential abrufen kann. Bemerkenswert ist ihre Geduld. Es hat mehrere Jahre gedauert und gerade, wenn eine Athletin eher in der zweiten Reihe steht, ist es nicht selbstverständlich, dabeizubleiben.

Yemisi hat ein sehr individuelles Umfeld gefunden, das optimal abgestimmt ist. Sie wird so weitermachen. Ich traue ihr eine noch größere Weite zu. Ihr 20-Meter-Stoß in Glasgow war schön, technisch aber nicht ihr bester. Bei der EM ist Yemisi mit ihrem gezeigten Niveau eine Medaillenkandidatin, auch bei Olympia kann sie auf die vorderen Plätze schauen. Allerdings entwickelt sich auch die internationale Konkurrenz gerade weiter. Dazu kommt, dass in Paris Qualifikation und Finale anstehen. In Budapest hat Yemisi nach ihrer Bestleistung in der Quali auch im Finale eine gute Weite erzielt. Die anderen Finalistinnen konnten sich aber noch einmal steigern. Da passt es gut, dass es auch bei der EM Quali und Finale gibt. Das ist eine Art Generalprobe für Olympia.

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