| Historische Serie

Deutsche EM-Gesichter IV: Guido Kratschmer – Vom Weltrekordler zum Fan

Die Leichtathletik-EM 2018 vom 7. bis zum 12. August im Berliner Olympiastadion wird 2018 das größte Sportereignis auf deutschem Boden. Die Europameisterschaften haben seit ihrer Premiere 1934 in Turin eine große Tradition. In unserer zweiten historischen Serie präsentieren wir deutsche EM-Gesichter vergangener Titelkämpfe. Heute: Zehnkämpfer Guido Kratschmer, der an vier Europameisterschaften teilnahm und 1980 Weltrekordler war.
Ewald Walker

„Zehnkampf ist keine Frage der Hautfarbe“, prangerte es in den 80er Jahren im Zehnkampf-Mekka Götzis (Österreich) auf den T-Shirts. Der Indianer Jim Thorpe (1912), der Chinese Yang Kewang (1963), der weiße Guido Kratschmer (1980) und der dunkelhäutige Daley Thompson (Großbritannien) stehen für die Vielfalt der leichtathletischen Königsdisziplin. Mittendrin Guido Kratschmer (USC Mainz), der 1980 in Bernhausen mit 8.649 Punkten „aus Trotz“ einen Weltrekord aufgestellt hatte.

Die Politik hatte ihn nämlich mit dem Boykott der Olympischen Spiele von Moskau (Russland) um einen möglichen Olympiasieg gebracht. „Ich hatte auf der Fahrt nach Götzis im Radio diese Nachricht vernommen“, sagt Kratschmer im Rückblick, und man spürt ihm immer noch die große Enttäuschung an. Die Russen sind damals nach Afghanistan einmarschiert – die deutschen Sportler blieben in Moskau außen vor.

Hoch motiviert hatte sich der Mainzer Bauernsohn vier Jahre lang auf seinen Karrierehöhepunkt 1980 vorbereitet. Nach seinem Weltrekord in Bernhausen („unheimlich viele Zuschauer, eine tolle Atmosphäre und tolle Leistungen kennzeichneten diesen Wettkampf“) wurde er zum Sportler des Jahres in Baden Baden gekürt und erhielt das Silberne Lorbeerblatt – der Schmerz über die verpasste Goldmedaille bei den Olympischen Spielen ist jedoch bis heute geblieben.

Hohe Sympathiewerte

Sicherlich brachte diese einmalige Geschichte dem zurückhaltenden und fairen Sportler viele Sympathien ein. Aber auch mit seinem Auftreten in seinen 16 Jahren Zehnkampfgeschichte viel Anerkennung ein. „Guido Kratschmer war der sympathischste deutsche Athlet seiner Zeit“, untermauert Robert Hartmann, einer der renommiertesten deutschen Leichtathletik-Journalisten seinen Stellenwert.

Begonnen hatte Kratschmers internationale Karriere bei den Europameisterschaften 1974  in Rom (Italien) – mit dem überraschenden Gewinn der Bronzemedaille des 21-Jährigen. „Da lief alles rund, ich hatte beim 400-Meter-Lauf einen richtigen Flow“, erinnert er sich. „Wir hatten relativ bescheiden in Sechsbettzimmern gewohnt“, erzählt er. Bemerkenswert bei der EM in Rom: Weil erstmals im Stadion Bandenwerbung aufgestellt wurde, gab es keine TV-Übertragungen. Welcher Anachronismus aus heutiger Sicht! Die Zeitungen hatten die Erfolge in die Bundesrepublik zu bringen.

Olympia-Silber hinter Legende Bruce Jenner

Bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal (Kanada) glänzte Kratschmer mit dem Gewinn der Silbermedaille hinter dem legendären US-Amerikaner Bruce Jenner. Die 5.000-Seelen-Gemeinde Großheubach feierte „ihren“ Guido, er wurde im Konvoi vom Frankfurter Flughafen Richtung Mainz gefahren und zu den vielen wartenden Menschen vors Rathaus in seinem Heimatort gebracht.

1978 bei der EM in Prag (Tschechien) begannen Kratschmers bittere Jahre. Mit dem Abdruck aus dem Startblock beim 100-Meter-Lauf war sein Zehnkampf nach drei Sekunden wegen einer Aduktoren-Verletzung vorzeitig beendet. 1982 im griechischen Athen („Damals war es sehr heiß im Stadion“) war er noch immer nicht aus dem Motivationsloch des Olympia-Boykotts heraus: Mit Platz neun blieb er unter seinen Möglichkeiten. Bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles (USA) verpasste Kratschmer als Vierter hinter Siggi Wentz (LG Staufen) eine Medaille.

Zwei Jahre später endete eine internationale Meisterschaft für Kratschmer wieder frühzeitig. „Ich war bei der Heim-EM voll motiviert, die Stimmung im Neckarstadion war mit dem rhythmischen Klatschen  und der Welle im Publikum sensationell“, zeigt er sich noch heute von den Titelkämpfen in Stuttgart angetan. Erstmals hatte man die Leichtathletik in einer solch begeisterten Stimmung erlebt. Mit einer Muskelverletzung im Oberschenkel kam jedoch nach dem Weitsprung wieder ein frühzeitiges Aus.

Viermal bei der EM – aber nicht sein „Ding“

Viermal trug Guido Kratschmer bei Europameisterschaften das DLV-Trikot. „Die EM war bis auf Rom zu Beginn nicht mein Ding“, zieht er Bilanz. Mit dem Ziel Olympische Spiel 1988 in Seoul (Südkorea) vor Augen wollte die Zehnkampf-Legende nochmals angreifen. Mit einem Achillessehnenriss bei der Olympia-Qualifikation in Rhede, endete die eindrucksvolle Karriere des 35-Jährigen.

„Zehnkampf war mein Leben, er begleitet mich noch heute“, sagt Kratschmer, der sich nach dem Referendariat für das Realschul-Lehramt in die Abgeschiedenheit seines Bauernhofs zurückzog. Guido Kratschmer ist als Zuschauer der Leichtathletik treu geblieben, besuchte Olympische Spiele in Barcelona (Spanien), Sydney (Australien) und London (Großbritannien), die WM in Stuttgart 1993 und die Mehrkämpfe in Ratingen und Götzis.

Berlin 2018? Natürlich ist der vom Idol zum Fan gewordene „Mensch Kratschmer“ dabei. „Es gibt eigentlich jeden Tag ein Highlight, bei dem deutsche Athleten gewinnen können“, freut sich Guido Kratschmer schon jetzt auf einen heißen Sommer im Olympiastadion und in der Hauptstadt.
 

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