Tatjana Pinto ist wieder da. Mit neuem Trainer, an neuer und doch irgendwie vertrauter Trainingsstätte und mit ganz viel Vertrauen in ihre körperliche und mentale Stärke. Die Sprinterin des LC Paderborn trainiert neuerdings bei Erfolgscoach Rana Reider am Stützpunkt des TV Wattenscheid 01.
Es gibt Menschen, die eine ganz besondere Beziehung zu ihrem Herzen pflegen. Die vielleicht für Außenstehende auf den ersten Blick verschlossen wirken, aber, wenn sie sich öffnen, eine ganz besondere Wärme und Tiefe haben. Menschen, deren Herz schon oft auf die Probe gestellt wurde, was aber auch der Grund dafür sein mag, warum es immer final entscheiden darf, wenn Kopf und Herz sich mal nicht einig sind. Tatjana Pinto ist so ein Mensch.
Im Frühjahr 2019 stand die fünffache Deutsche Meisterin, die das Tattoo eines Herzes im Animal-Print auf der rechten Schulter trägt, vor einer dieser schwierigen Entscheidungen. Über ihren Ausrüster Puma hatte sie das Angebot, sich der Trainingsgruppe von Erfolgstrainer Rana Reider anzuschließen. Dem Mann, dem so namhafte Athleten wie der zweimalige Olympiasieger im Dreisprung Christian Taylor (USA), die zweimalige Hallen-Weltmeisterin und Olympia-Zweite über die Hürden Nia Ali (USA) oder auch der Olympia-Zweite über 100 und 200 Meter, André de Grasse (Kanada), vertrauen.
Eine Wahnsinns-Chance, das war Tatjana Pinto sofort klar. Aber diese Chance war auch mit einem Abschied verbunden, bedeutet es doch für die Athletin, die neben ihrem Sport „Soziale Arbeit“ studiert, den Weggang von ihrem langjährigen Trainer Thomas Prange. „Ein Freund, ein Vertrauter, meine Familie.“ So spricht Tatjana Pinto über den ehemaligen Sprinter, der in Paderborn schnelle Menschen noch schneller macht und aus Tatjana Pinto die Athletin formte, die sie heute ist. Körperlich, aber vor allem auch mental.
Permanente Schmerzen
„Thomas Prange hat mir damals, vor fünf Jahren, erstmals so richtig das Gefühl gegeben, dass es ernsthaft was mit mir und dem hochklassigen Leistungssport werden kann“, sagt Tatjana Pinto. „Du kannst richtig, richtig schnell laufen", habe er gesagt. Genau diesen Gedanken habe sie damals, 2014 bei den Deutschen Meisterschaften in Nürnberg, auch kurz vor dem Start abgerufen. Kurz danach war sie zum ersten Mal Deutsche Meisterin. „Das werde ich nie vergessen.“
Diesen Glauben an ihr Können gab Thomas Prange ihr auch Anfang diesen Jahres mit auf den Weg. „Ich war ja noch verletzt und war auch deshalb unsicher, ob ich den Schritt in eine neue Trainingsgruppe wagen soll“, sagt Tatjana Pinto. Die Verletzung hatte die Münsteranerin, die seit Jahren für den LC Paderborn startet, schon den gesamten vergangenen Sommer belastet und auch eine bessere Platzierung als das Halbfinale über 100 Meter bei den Europameisterschaften in Berlin verhindert. „Nach der Saison habe ich komplett geruht“, erzählt Tatjana Pinto. Doch die Schmerzen wurden immer schlimmer. „Liegen, stehen, sitzen – alles tat unglaublich weh. Dieser Alltagsschmerz hat mich schier verrückt gemacht.“
Diagnose bringt Lösung und Dankbarkeit
Auch, weil es lange keine Diagnose gab. „In dieser Phase, als nichts richtig gefunden wurde, war ich sicher nicht ganz einfach.“ Dann endlich: „Der Ischiasnerv war komplett entzündet.“ Eine Erleichterung, denn endlich konnte auch die Ursache des Schmerzes wirkungsvoll behandelt werden. „Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich war, als endlich eine Diagnose da war.“
Die Gewissheit, dass ein Alltag ohne Schmerzen, ein Leistungssport ohne größere Wehwehchen eben keine Selbstverständlichkeit sind, ist ihr aus dieser Phase geblieben. „Thomas Prange, der wie immer einen tollen Job gemacht hat, mein Physio Peter Müller, der mich in der Zeit täglich behandelt hat – sie alle haben mich wieder auf die Bahn gebracht. Und dass ich da jetzt wieder stehe, dafür bin ich täglich dankbar.“
Thomas Prange ermutigte zum Wechsel
Thomas Prange war es auch, der sie in ihrem Wechsel zu Rana Reider bestärkte und ihr den Weg bereitete. Keine Selbstverständlichkeit, das weiß Tatjana Pinto. „Er hat gesagt: 'Das ist bestimmt eine gute Sache.' Er hat mich ermutigt, mich in allem unterstützt. Das erfordert viel menschliche Größe. Thomas hat den Plan vorgegeben, wann ich fit genug sein würde, um mich dieser Gruppe anzuschließen.“ Ein Plan, der vollends aufging.
Seit März trainiert die Staffel-Europameisterin von 2012 nun unter Rana Reider. Erst in Florida, doch seit Mai hat die Gruppe ihren Stützpunkt, ihre „European Base“, auf der Anlage des TV Wattenscheids 01 mitten im Ruhrgebiet bezogen. „Ideal“, sagt Tatjana Pinto. „Wir haben hier alles fußläufig, können uns voll aufs Training konzentrieren und können von hier mit den Flughäfen in der Umgebung die Top-Meetings gut und schnell erreichen.“
Die Chance, über sich hinauszuwachsen
In der enorm leistungsstarken Gruppe, die aus 15 bis 20 Athleten besteht, sind auch zwei Sprinterinnen, die über 100 Meter schon unter elf Sekunden geblieben sind. Eine Zahl, die auch Tatjana Pinto in sich fühlt. „Die Zehn vor dem Komma, die will ich sehen“, sagt sie. Selbstbewusstsein und Stärke kann sie auch aus dem täglichen Training ziehen, das sich von der Intensität gar nicht so sehr von ihrem bisherigen unterscheidet. Aber täglich gegen starke Konkurrentinnen anzutreten, neben ihnen im Block zu sitzen, an ihrem ersten Schritt aus dem Block heraus („meine Schwäche“) zu arbeiten, das pusht sie.
„Ich will am Ende meiner Karriere mit mir im Reinen sein. Und das kann ich nur, wenn ich weiß, ich habe alles rausgeholt“, sagt Tatjana Pinto. „Ich bin ein ehrlicher Mensch. Ehrlich zu anderen, aber auch zu mir. Daher weiß ich, ich muss auch raus aus meiner eigenen Komfortzone, mich stellen. Sei es im Training auf Jamaika, wo ich vorher ja auch schon mal war, oder eben jetzt mit meiner neuen Trainingsgruppe, in der jedes Training ein kleiner Wettkampf ist. Eine Herausforderung. Aber eben auch meine Chance, immer weiter über mich hinauszuwachsen.“
Seit Mai erst im vollen Training
Nach ihrer Verletzung kann Tatjana Pinto erst seit Mai wieder fünf bis sieben Mal in der Woche trainieren. „Dafür bin ich mehr als zufrieden, wie es derzeit läuft.“ Wie es tatsächlich läuft, das konnte die 27-Jährige, die am Dienstag ihren Geburtstag feierte, noch gar nicht richtig zeigen. Aus dem eigentlichen Wettkampfblock, der aus drei Rennen bestehen sollte, wurde schlussendlich nur ein Wettkampf. In Montreuil (Frankreich) stand nach einem Fehlstart-Durcheinander eine indiskutable Zeit in der Ergebnisliste, Tübingen wurde aufgrund eines Unwetters abgesagt. Einzig in Chorzów (Polen) deutete sie mit 11,26 Sekunden ihr Vermögen an. „Das wird noch deutlich schneller dieses Jahr“, da ist sich Tatjana Pinto sicher.
Am besten bei den Weltmeisterschaften in Doha (Katar; 27. September bis 6. Oktober): „Da will ich abliefern.“ In Doha will sie Bestzeit laufen. Die steht seit 2016 bei glatten 11,00 Sekunden. Gedanklich ist diese Marke längst kein Hindernis mehr für sie. Und auch ihren Respekt vor den 200 Metern hat sie abgelegt. „Mental ist das eine ganz andere Herausforderung als die 100 Meter, da das Rennen erst so richtig ausgangs der Kurve beginnt. Da musst du beißen, kämpfen. Das kann ich.“ Sagt sie, und ihr Blick ist der einer Athletin, die weiß, wer sie ist, die mit sich im Einklang ist.
Denn: „Ich fühle, dass ich den richtigen Weg eingeschlagen habe.“ Hier, mit der Trainingsgruppe um Rana Reider. Ihr Herz sagt ihr: Das ist richtig.