| Interview der Woche

Prof. Dr. Michael Gutmann: „Corona kann uns bremsen, aber nicht aufhalten“

"Sieger werden im Kopf gemacht." Was mit dieser so pauschal daherkommenden Phrase gemeint ist: Der mentale Umgang mit herausfordernden Situationen kann den entscheidenden Unterschied machen. Nachdem wir uns in den vergangenen Wochen verstärkt mit der körperlichen Fitness beschäftigt haben, soll in den kommenden Tagen die Stärke im Kopf im Fokus unserer Initiative #TrueAthletes@Home stehen. Wie wir der Ungewissheit, Ängsten und einer für uns alle völlig neuen Situation begegnen – und wie wir vielleicht gar gestärkt aus dieser Lage herausgehen können, darüber haben wir mit dem Leitenden DLV-Psychologen Prof. Dr. Michael Gutmann gesprochen.
Alexandra Dersch

Prof. Dr. Michael Gutmann, was verstehen Sie unter mentaler Stärke?

Michael Gutmann:

Für mich bedeutet mentale Stärke die Kompetenz, mit schwierigen Situationen umgehen zu können. Das sind im Sport Situationen wie Zeitplanverzögerungen, plötzlich einsetzender Regen oder auch Fehlstarts. Da setzen sich diejenigen durch, die fokussiert bleiben, ihre Nerven behalten und weiter tun können, was es braucht, um ihr Ziel zu erreichen.

Schwierig ist für viele Menschen auch die aktuelle Situation, das Leben in der Corona-Krise. Welche Funktion übernimmt die mentale Stärke in Situationen wie dieser? Im Alltag? Aber auch im Spitzensport?

Michael Gutmann:

Der Sport ist in vielen Punkten ein Abbild des Alltags. Sprich: Kompetenzen, die mir in den herausfordernden Momenten des Sports helfen, lassen sich auch auf den Alltag übertragen. Wichtig ist, dass ich handlungsfähig bleibe, mich nicht lähmen lasse. Von der aktuellen Situation mit all ihren Facetten. Von den damit einhergehenden Ängsten. Dass ich mental in kein Loch falle. Und das auf die Gesellschaft zu übertragen, ist derzeit aktueller denn je.

Die aktuelle Situation wird uns wohl noch lange begleiten. Bei manchen Menschen entwickelt sich gar eine Spur von Alltag in dieser dennoch so ungewohnten Situation. Ist das hilfreich oder eher hemmend, aus psychologischer Sicht?

Michael Gutmann:

Gewohnheiten sind hilfreich und wichtig. Fast unser ganzes Leben wird von Gewohnheiten geregelt. Sie helfen uns, notwendige Dinge einfach bewältigen zu können, um die Kraft für die wichtigen Dinge zu behalten. Gerade in schwierigen Situationen brauchen wir sie daher, um neue Strukturen zu finden. Sie können Halt geben.

Dennoch ist dieses Gefühl von Alltag trügerisch. Zu fragil ist das Konstrukt, zu schnell änderte sich die Lage innerhalb der letzten Wochen. So scheint jeder aktuell sein eigenes Päckchen zu tragen. Die Familien. Die Alleinstehenden. Und auch die Spitzensportler. Gibt es Tipps, die in diesen Lebenssituationen weiterhelfen können?

Michael Gutmann:

Wir müssen uns darüber bewusst werden, dass unsere wichtigste Eigenschaft die Anpassungsfähigkeit ist. Das war schon immer so. Lassen Sie uns da nur kurz einen Blick auf die Evolutionsgeschichte werfen: Die, die sich anpassen konnten, die haben überlebt. Das gilt für Menschen und Tiere gleichermaßen. Das hat schon Charles Darwin erkannt. Ein erster Schritt ist immer die Akzeptanz, dass sich die Situation geändert hat. Wenn ich das hinnehme, bin ich in der Lage neue Lösungen und Wege für mich zu finden. Wenn ich aber hadere und darin verharre, mich zu ärgern, dann denke ich nicht konstruktiv. Im Gegenteil: Das lähmt mich.

Spitzensportler finden sich aktuell ganz konkret in der Lage, dass sie keinem internationalen sportlichen Ziel entgegenfiebern können. Viele berichten von Planlosigkeit, einem Motivationsloch, von einer gewissen Leere. Wie kann das gut gehen?

Michael Gutmann:

Wichtig ist, dass ich die Enttäuschung zulasse. Keiner muss freudestrahlend auf die Verschiebung der Olympischen Spiele oder die Absage von internationalen Jugendmeisterschaften reagieren. Im Gegenteil: Es ist wichtig und richtig, dem Frust, dem Ärger und der Enttäuschung Raum zu geben. Das sollten wir auch nicht wegdiskutieren oder einfach beiseite wischen. Weder der Betroffene selbst, in diesem Fall der Athlet, noch Trainer oder andere Personen, die es als Beobachter erleben. Denn werden diese Emotionen verdrängt, dann holen sie mich an anderer Stelle wieder ein. Wie lange diese Phase dauert, das ist ganz individuell, ganz ähnlich einer Trauerbewältigung. Da ist jeder Mensch anders. Aber wir sollten uns im Hinterkopf klar machen, dass auch Emotionen eine Halbwertszeit haben. Sprich: Sie sind endlich. Irgendwann kommt der Punkt, da fühle ich: Ich habe genug getrauert. Und dann kann es weitergehen. Das ist dann der Prozess des Akzeptierens, der mich befähigt, weiter zu planen.

Wenn ich mich aber doch in eine Sackgasse gedacht habe: Was kann helfen?

Michael Gutmann:

Ich sollte nicht den Anspruch haben, das alles mit mir alleine ausmachen zu wollen. Der Austausch hilft. Er hilft im Prozess der Verarbeitung, indem ich das Erlebte und den Frust darüber ausspreche. Er hilft, um Orientierung zu finden, indem andere mir umgekehrt von ihren Ängsten erzählen und ich meine angelehnt daran einordnen kann. Und ich gebe den Emotionen so Raum und unterdrücke sie nicht. Dieser Austausch kann mit der Familie passieren, mit Freunden, mit anderen Athleten oder auch Trainern. Und natürlich bieten auch wir als DLV-Psychologen unsere Hilfe an und sind ansprechbereit.

Hinzu kommt, dass wir uns darüber bewusst sein müssen, dass unsere Kräfte endlich sind. Im körperlichen ist uns das ganz klar: Wenn ich am Ende meiner Kräfte bin, kann ich nicht mehr weiterlaufen. Auf eine Belastung folgt daher in der Trainingssteuerung immer eine Regeneration, die wir brauchen, um uns körperlich weiterentwickeln zu können. Im Mentalen ist das ähnlich. Gönne ich mir keine Pausen, kommt es zum Burnout. Im Sport würden wir es Übertraining nennen. Und die aktuelle Situation ist prädestiniert dafür, um mich mental zu überfordern. Wenn ich mir permanent Sorgen mache, lade ich meinen psychischen Tank nicht mehr auf. Irgendwann falle ich in ein Loch. Die Kunst ist, auch von Sorgen abzuschalten. Oma hat dazu früher immer gesagt: „Geh mal raus, damit du auf andere Gedanken kommst.“ Und damit hat sie Recht. Spazieren gehen, das Handy ausmachen, meditieren oder auch Gymnastik machen – jeder hat da andere Wege, die ihm helfen, die aber alle zum Ziel führen.

Manche Athleten berichten auch, dass sie diese Zeit nun nutzen wollen, um an körperlichen Schwächen zu arbeiten. Ist das ebenfalls eine Strategie, die sich auch auf die mentale Ebene übertragen lässt? Indem ich vielleicht etwas ausprobiere, das ich im normalen Saisonablauf nicht gewagt hätte, da die Zeit es schlicht nicht zugelassen hätte? Inwiefern kann diese Pandemie damit auch eine Chance sein?

Michael Gutmann:

Kleine Ziele können uns über den Tag retten, aber sie machen nur dann Sinn, wenn sie Teil eines großen Ganzen sind. Olympia sollte im Hinterkopf bleiben. Der Traum, der nicht abgesagt, sondern verschoben wurde. Diese Vision, die diesen Glanz in den Augen hervorruft, der hilft mir. Corona kann mich zwar zwischenzeitlich bremsen, aber nicht aufhalten. Und dieses Denken, das beobachten wir auch bei einigen unserer Top-Athleten.

Das Wieder-Erlangen der Kontrolle über sein Leben, handlungsfähig zu bleiben – all das sind Faktoren, die Menschen in so unklaren Situationen helfen. Der Weg dahin ist manchmal aber die größte Herausforderung. Mentales Training kann ein Ansatz sein. Was verbirgt sich dahinter überhaupt genau?

Michael Gutmann:

Mentale Arbeit oder auch mentales Training ist ein sehr unterschiedlich gebrauchter Begriff. Im engeren Sinne versteht man darunter die mentale Vorstellung von Bewegungen, ohne sie real durchzuführen. Das kann toll funktionieren, wird in der Praxis aber tatsächlich selten intensiv genug umgesetzt. Viele verstehen unter mentalem Training, sich im Wettkampf, kurz vor einem Versuch etwa, die Bewegungen nochmal im Kopf durchzugehen. Das hat strenggenommen aber nicht viel mit mentalem Training zu tun. Im weiteren Sinn ist mentales Training aber eben auch die Förderung der mentalen Stärke angesichts der derzeit ungewohnten Situation im Hinblick auf Selbstbewusstsein, Zielorientierung oder auch Motivation. Und da gibt es ganz unterschiedliche Wege, aus denen sich jeder das heraussuchen kann, was ihm gut tun. Dazu gehört etwa auch Meditation oder auch Yoga, was alles tolle Techniken sind. Ein Geheimrezept, was für jeden allgemeingültig funktioniert, das gibt es hier schlicht nicht. Denn: Wichtig ist auch, dass ich mir darüber bewusst bin: Das, was für den einen funktioniert, spricht einen anderen vielleicht gar nicht an.

Wie kann mentales Training für einen Athleten ganz konkret aussehen?

Michael Gutmann:

Als Anfänger sollte ich mir Unterstützung von einen Profi, etwa von uns holen. Es ist unsere Aufgabe, den Athleten dabei zu helfen, ihren Kopf oben zu tragen. Es macht auch Sinn, hier die Trainer mit einzubeziehen. Denn mentales Training kostet Energie. Am Anfang ist mentales Training daher wie eine neue Kraftübung – es braucht etwas Zeit, bis es funktioniert. Aber dann ist es ein Tool, mit dem ich viel erreichen kann. Denn wer seine Gedanken im entscheidenden Moment zusammenhalten kann, der bleibt auch dann handlungsfähig und kann seine Leistung abrufen.

Lässt sich abschätzen, wie viel Einfluss die mentale Stärke an Spitzenleistungen hat? Oder andersherum gefragt: Warum lohnt es sich, neben der körperlichen auch seine mentale Fitness zu trainieren?

Michael Gutmann:

Nehmen wir mal an, ein Athlet startet mit seinem aktuellen Leistungsvermögen bei den Olympischen Spielen. Im Idealfall gehen wir davon aus, dass er – je nach Tagesform – sein Leistungspotenzial annähernd zu 100 Prozent zeigen kann. Doch es kann immer etwas Ungeplantes passieren. Etwas, was er vorher nicht bedacht hat, auf was er nicht vorbereitet war, zum Beispiel eine Zeitplanänderung oder ein Fehlstart. Dann fehlen plötzlich einige Prozent des Potenzials, oder es geht gar nichts mehr. Das heißt: Fehlende mentale Stärke kann zu einem geringeren Ausschöpfen des Leistungspotenzials führen – oder sogar zum Versagen unter Druck. Der Favorit scheitert krachend.

Und dann gibt es noch die andere Facette: Athleten, die völlig über sich hinauswachsen. Die eine körperliche Leistung zeigen, die sich im Vorfeld nicht abgezeichnet hat. Der Grund kann sein, dass der Trainer den Athleten sehr gut eingestellt und diese Leistung durch Training gezielt ermöglicht hat. Es kann aber auch ein mentaler Effekt sein. Durch Emotionen, die ein Zusammenspiel aus Gedanken und Hormonen sind, und die auf das Leistungsvermögen einwirken können. Wir kennen dies aus Berichten, in denen etwa eine Mutter ihr Kind aus einer lebensgefährlichen Lage rettet und dabei schier Unmenschliches vollbringt – mit Hilfe ihrer Emotionen, die sie körperlich zu dieser Leistung befähigt haben. Ähnlich kann es sich bei Athleten verhalten, die über sich hinauswachsen und dabei ein Leistungspotenzial freisetzen, das eigentlich nicht da war. Aber um genau das möglich zu machen, braucht es mentale Stärke. Das gelingt dann nicht jedes Mal, das ist klar. Aber wenn es gelingt, dann sind das die Momente im Sport, an die sich der Athlet und auch das Publikum ewig erinnern werden.
 

#TrueAthletes@Home | Mentale Stärke
Im entscheidenden Moment überzeugen. Sich von Unwägbarkeiten nicht aus dem Konzept bringen lassen. Und in jedem Problem auch eine Chance sehen. All das zeichnet Siegertypen aus. In Zeiten der Corona-Pandemie wollen wir mit unserer Initiative #TrueAthletes@Home auch Anregungen für das Training der mentalen Stärke geben! In den kommenden Tagen finden Sie daher auf leichtathletik.de zahlreiche Tipps unserer DLV-Experten, Motivations-Videos von Ex-Zehnkämpfer Frank Busemann oder Best-Practice-Beispiele unserer Top-Athleten. Klicken Sie rein!

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