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Magische Momente: Verena Sailer krönt sich zur Königin von Barcelona

Auf Wettkämpfe, wie wir sie kennen und lieben, müssen wir aufgrund der Corona-Pandemie zunächst verzichten. Umso mehr lohnt es sich, auf die magischen Momente zurückzublicken, die uns die deutschen Leichtathleten in der Vergangenheit beschert haben. In unserer neuen Reihe nehmen uns die Protagonisten mit zu den Stunden, die ihr Leben verändert haben. Und die uns auch heute noch Gänsehaut bescheren. Heute: Verena Sailer, die 2010 in Barcelona (Spanien) völlig überraschend 100-Meter-Europameisterin wurde.
Verena Sailer / Nicolas Walter

Es war Silvester 2009/2010. Aus meiner Dachgeschosswohnung beobachtete ich das Lichtermeer am Himmel und hörte die ausgelassenen Rufe von feiernden Menschen. Da ich kurz zuvor krank geworden war, konnte ich in diesem Jahr leider nicht feiern und war gezwungen den Abend zuhause zu verbringen. Ich legte mich ins Bett, hörte ein wenig Radio und überlegte mir, was ich mir für das neue Jahr wünsche und vornehme, als plötzlich dieser Song lief – The Great Defector von Bell X1. Mit einem Mal schoss mir der Gedanke klar und deutlich durch den Kopf: Ich möchte 2010 Europameisterin über 100 Meter werden. Von diesem Moment an hatte ich die tiefe Überzeugung, dass ich es tatsächlich schaffen kann. Es war eine sehr positive Zielsetzung. Ohne den Druck, dass es passieren muss, aber mit der inneren Überzeugung, dass es definitiv machbar ist. Mit dieser Einstellung und Erwartungshaltung reiste ich sieben Monate später nach Barcelona.

Dort teilte ich mir, wie bei fast allen Wettkämpfen, ein Hotelzimmer mit Anne Cibis (damals Möllinger), mit der ich auch zusammen in Mannheim trainierte. Annes ausgeglichene Art gab mir auch in den Tagen von Barcelona die nötige Ruhe vor dem Wettkampf. Ein erstes Anzeichen für meine gute Form konnte ich bereits wenige Tage vor dem ersten Lauf beim Starttraining im Estadi Olímpic Lluís Companys, dem Olympiastadion von Barcelona, erkennen. Die Laufbahn, das Stadion, mein Körper – alles fühlte sich wahnsinnig gut an und gab mir für meinen anstehenden Vorlauf ein sicheres Gefühl.

Der Vorlauf

Am Vormittag des 28. Juli 2010 war es schließlich so weit. An viele Details erinnere ich mich nicht mehr, aber ich weiß noch, dass ich den Vorlauf als letzte Vorbereitung für das Halbfinale und somit den eigentlichen Wettkampf am nächsten Tag ansah. Mit 11,27 Sekunden gewann ich den Lauf, war im ersten Moment allerdings alles andere als zufrieden mit der Zeit. Erst nach einigen Augenblicken realisierte ich, dass der Gegenwind mit 1,5 Metern pro Sekunde verhältnismäßig stark und die Zeit unter diesen Bedingungen sogar ziemlich gut war. Tatsächlich bin ich am Ende des Tages sogar die schnellste Vorlaufzeit gelaufen. Im Anschluss daran gab ich einige Fernsehinterviews und merkte, dass die Reporter langsam, aber sicher versuchten, mir eine Favoritenrolle zuzuschieben. Klar, meine Zeit war gut, aber ich wollte mich auf keinen Fall unter Druck setzen lassen.

In der Nacht vor dem Halbfinale und Finale tat ich mich schwer einzuschlafen. Ich war nervös und versuchte, so wenig wie möglich an den kommenden Tag zu denken. Gleichzeitig redete ich mir ein, dass die Nacht vor einem Wettkampf überhaupt nicht so wichtig sei, sondern es vielmehr auf den Schlaf zwei Nächte vorher ankomme. Ob diese Gedanken geholfen haben, weiß ich nicht. Aber immerhin schlief ich nach einiger Zeit ein und hatte in dieser Nacht sogar einen relativ erholsamen Schlaf.

Das Halbfinale

Das Halbfinale am nächsten Tag stand erst um halb neun Uhr abends an, sodass ich mich den Tag über irgendwie ablenken musste. Ich weiß noch, dass ich am Mittag damit begann, unser komplettes Zimmer aufzuräumen. Ich dachte mir: Wenn ich das jetzt nicht tue, dann wird am Abend gar nichts funktionieren. Grundsätzlich war ich nie abergläubisch, aber in diesem Moment war ich fest davon überzeugt, dass ich das tun musste. Jetzt im Nachhinein würde ich sogar sagen, dass ich dabei richtig in den Fokus fand und diesen den restlichen Tag über auch nicht mehr verlor. Als am späten Nachmittag schließlich die Fahrt ins Stadion anstand, war ich so fokussiert, dass ich außer mit meinem Trainer Valerij Bauer und seiner Frau Ella, meiner Physiotherapeutin, mit niemandem sprach und auch niemanden mehr anschaute. Ich war vollkommen im Tunnel.

Beim Warm-up spürte ich eine maximale Anspannung. Ich dachte überhaupt nicht daran, gleich als Erste über die Ziellinie laufen zu wollen, sondern daran, was ich dafür tun musste. Schließlich war es so weit und ich stand an der Startlinie für das Halbfinale. Ich war zu den Europameisterschaften mit einer vollkommenen Selbstsicherheit gefahren, doch ausgerechnet in diesem Moment kamen mir Zweifel. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich noch nie in einem internationalen Finale stand und mir vielleicht zu viel vorgenommen hatte. Durch diesen Moment der Unkonzentriertheit wurde ich nervös. Der Startschuss ertönte und wir rannten los. Ich richtete langsam meinen Körper auf und wollte gerade Geschwindigkeit aufnehmen, als ich plötzlich beim dritten Schritt ins Stolpern kam.

Ich erinnere mich noch an den Schock, der mir in diesem Moment durch Kopf und Glieder fuhr. Glücklicherweise konnte ich meinen Körper abfangen, mich auf den Beinen halten und das Rennen fortsetzen. Ab diesem Zeitpunkt nahm ich den Lauf unglaublich bewusst war. Ich holte Stück für Stück meine Konkurrenz ein und fühlte mich dabei wie auf einem dieser Laufbänder am Flughafen. Es war anstrengend, lief aber irgendwie ein bisschen auch von selbst, es war die perfekte Balance zwischen Anspannung und Entspannung. Nach 11,06 Sekunden kam ich als Erste ins Ziel und hatte erreicht, wovon ich schon immer geträumt hatte: Ich stand im Finale einer großen internationalen Meisterschaft.

Dass ich trotz des Stolperers an der Konkurrenz vorbeilaufen konnte, gab mir eine große Sicherheit. Da zwischen Halbfinale und Finale lediglich etwa 70 Minuten lagen, lief ich voller Selbstbewusstsein zurück auf den Aufwärmplatz, wo bereits mein Trainer auf mich wartete. Mit seiner besonnenen Art gab mir Valerij ein unglaublich beruhigendes Gefühl. Wir sprachen nicht viel, aber uns war beiden klar, wohin der Weg nun führen könnte.

Das Highlight meiner Karriere: Das Finale

Wie ich es vor jedem Lauf in diesem Jahr gemacht hatte, hörte ich mir auch jetzt noch einmal den Song von Bell X1 an und absolvierte in Abstimmung mit meinem Trainer die letzten Übungen, um mich auf das größte Highlight meiner Karriere vorzubereiten. Wenige Augenblicke vor dem Start standen schließlich alle Finalisten mit einem kleinen Abstand hinter ihrem Startblock. Da ich mich in diesem Moment ausschließlich auf mich, die Bahn und meinen Lauf konzentrieren wollte, stand ich etwas weiter vorne, direkt an meinem Startblock. Ich kniff zusätzlich die Augen zu, da ich niemanden im Augenwinkel sehen wollte, um mich ausschließlich auf das Wesentliche konzentrieren zu können.

Als wir im Startblock saßen, fühlte sich mein Herz so an, als würde es jeden Moment aus meinem Brustkorb springen. Der Startschuss fiel und wir stürmten aus unseren Blöcken heraus. Die Anfangsphase lief deutlich besser als im Halbfinale, sodass ich sofort direkten Kontakt zur Spitze hatte. Ich kann mich noch daran erinnern, dass sich meine Arme und die von Véronique Mang, der späteren Zweitplatzierten, mehrfach während des Laufes berührten. Ich hatte deutlich weniger Gedanken als im Halbfinale zuvor, dafür spürte ich aber umso stärker die körperliche Belastung. Es war ein wahnsinnig anstrengender Lauf, und mein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich platzen. Ich hatte nie zuvor und danach einen Lauf wie diesen.

Es war ein äußerst enges Rennen, bei dem ich kurz vor Schluss zusammen mit Véronique an der Spitze lag. Ich hatte mir angewöhnt, bei jedem Zieleinlauf den Kopf leicht nach links zu drehen, um direkt die Zeitanzeige im Blick zu haben. Das tat ich auch diesmal, sodass ich unmittelbar nach dem Lauf nicht einschätzen konnte, ob Véronique auf der Bahn rechts von mir nun vor oder hinter mir ins Ziel einlief. Ich wartete die Platzierung auf der Anzeigentafel ab, bis mein Name plötzlich ganz oben auf der Liste erschien. Ich hatte mir diesen Moment so sehr gewünscht und ihn spätestens seit dem Silvesterabend für realistisch gehalten. Ich hatte mir das Ziel gesetzt, Europameisterin zu werden, hatte mir vorgestellt, wie sich der Moment anfühlen könnte. Und doch war es am Ende ganz anders. Es war ein unglaublicher Moment, viel schöner als in jeder Vorstellung.

Mit der Deutschlandfahne in der Hand und einem Blumenstrauß ging ich auf die Ehrenrunde und lief schließlich zu meinem Trainer und zu Anne, die den Lauf von der Haupttribüne aus verfolgt hatten. Wir ließen unseren Emotionen freien Lauf, sodass keiner mehr von uns die Tränen zurückhalten konnte. Auch in der Nacht heulte ich noch Rotz und Wasser, so stark war die Erleichterung und die Freude über den Titel. Ich hatte es geschafft. Ich war Europameisterin.

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