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Magische Momente: Ulrike Nasse-Meyfarth und das Glück von München

Auf Wettkämpfe, wie wir sie kennen und lieben, müssen wir aufgrund der Corona-Pandemie zunächst verzichten. Umso mehr lohnt es sich, auf die magischen Momente zurückzublicken, die uns die deutschen Leichtathleten in der Vergangenheit beschert haben. In unserer Reihe nehmen uns die Protagonisten von damals mit zu den Stunden, die ihr Leben verändert haben. Und die uns auch heute noch Gänsehaut bescheren. Heute: Ulrike Nasse-Meyfarth, die 1972 in München als 16-Jährige Olympiasiegerin im Hochsprung wurde.
Ulrike Nasse-Meyfarth / Nicolas Walter

„Vier Wochen vor den Spielen reiste ich gemeinsam mit meinen beiden Hochspringer-Kolleginnen Ellen Mundinger und Renate Gärtner sowie dem Bundestrainer Dr. Herbert Hopf ins Trainingslager nach Schongau im Allgäu. Wir hatten dort sehr gute Trainingsbedingungen und konnten uns somit in aller Ruhe auf unseren Wettkampf vorbereiten. Das Training war zu dieser Zeit dennoch nicht sonderlich intensiv, da es vor allem darum ging, dass wir unsere Form hielten und uns nicht verletzten.

Es waren sehr angenehme Tage, da wir viel Freizeit hatten und tagsüber oft auf dem Ammersee segelten oder Schlösser besichtigten. Ich genoss diese Zeit und war froh, dass ich nicht in die Schule gehen musste, auch wenn ich mir gleichzeitig Gedanken darüber machte, wie ich den verpassten Schulstoff nach meiner Rückkehr wieder aufholen konnte.

„Aufgeregt war ich nicht"

Am Tag vor dem Qualifikations-Wettkampf fuhren wir schließlich ins Olympische Dorf nach München, wo jede von uns ein Einzelzimmer bezog. Ich freute mich auf den Wettkampf und darauf, endlich Teil der Olympischen Spiele sein zu dürfen. Aufgeregt war ich aber nicht, da ich keinerlei Erwartungen an mich hatte. Dementsprechend normal verlief die Nacht.

Am nächsten Morgen stand ich etwa gegen sechs Uhr auf. Wir frühstückten in aller Ruhe, packten unsere Sachen und machten uns auf dem Aufwärmplatz vor dem Stadion warm. Um 10 Uhr stand die Qualifikation an, die ich ohne Fehlversuche absolvierte und mit 1,76 Meter locker ins Finale einzog. Die Pflicht war erfüllt. Heutzutage sind die Qualifikationsleistungen dagegen fast so hoch wie die eigentliche Wettkampfleistung, da muss man sich unheimlich konzentrieren. Damals war das aber noch vergleichsweise einfach zu schaffen.

Auch in der Nacht vor dem Finale war ich nicht aufgeregt. Mich kannte keiner und niemand erwartete etwas von mir. Wieso sollte ich mich groß verrückt machen? Ich war glücklich dabei zu sein und freute mich auf den nächsten Tag. Es war im Rückblick der letzte Wettkampf, bei dem ich diese lockere Einstellung im Vorfeld hatte. Denn was am Tag danach folgte, sollte mein Leben als Sportlerin, aber auch als Mensch grundlegend verändern. Bei all den darauffolgenden Wettkämpfen hatte ich immer den Druck der Erwartungen und war dementsprechend aufgeregt. Vielleicht waren die Olympischen Spiele 1972 auch genau deswegen mein schönster Wettkampf.

„Das lief wie im Film"

Am nächsten Tag musste ich mir die Zeit vertreiben, da das Finale erst um 15 Uhr anstand. Um mich für den anstehenden Wettkampf zu schonen, durfte ich nicht zu viel umherlaufen und versuchte ein bisschen zu lesen. Am Nachmittag lief ich schließlich wieder zum Aufwärmplatz, ehe ich im Anschluss ins Olympiastadion ging.

Das Finale begann und ich war genauso im Flow wie am Vortag. Die Höhen 1,71, 1,76, 1,79 und 1,82 Meter schaffte ich ohne Probleme im ersten Versuch. Ungläubig blickte ich auf die Anzeigentafel und sah, wie mein Name nach und nach immer weiter nach oben kletterte. Auch 1,85 Meter überwand ich mit dem ersten Sprung und stellte damit meine persönliche Bestleistung ein. Das lief wie im Film. Ich konnte es nicht glauben.

Nachdem ich schließlich auch noch 1,88 Meter übersprungen hatte, war klar, dass ich die Bronze-Medaille sicher hatte. Es waren nur noch die Bulgarin Yordanka Blagoeva, die Österreicherin Ilona Gusenbauer und ich im Rennen. Doch daran dachte ich in diesem Moment gar nicht. Ich war fokussiert auf die weiteren Sprünge.

„Euch zeige ich es jetzt!"

Bei 1,90 Meter hatte ich zum ersten Mal einen Fehlversuch. Verwundert nahm ich die Pfiffe des Publikums zur Kenntnis, die offensichtlich erwartet hatten, dass ich diese Höhe ohne Probleme meistern würde. Ich dachte mir: „Euch zeige ich es jetzt!“. Ich lief auf die Latte zu, sprang kraftvoll ab und übersprang die aufgelegte Höhe im zweiten Versuch. Das Stadion tobte. Diese Emotionen waren beeindruckend.

Yordanka Blagoeva und Ilona Gusenbauer scheiterten auch im dritten Versuch bei 1,90 Meter. Damit war es vollbracht: Ich war Olympiasiegerin! Doch die Zuschauer waren irritiert, da die Latte beim Sprung von Yordanka Blagoeva erst einige Sekunden nach ihrer Landung auf den Boden gefallen war. Ich nahm die Pfiffe der Zuschauer gegen die Entscheidung der Wettkampfrichter wahr, ließ mich davon jedoch nicht ablenken.

Wegen dieses Vorfalls war es gut, dass ich mir schließlich den damals aktuellen Weltrekord auflegen ließ – 1,92 Meter. Ich merkte, dass das ganze Stadion hinter mir stand: Zunächst feuerten mich alle an, ehe es plötzlich ganz still wurde. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Ich nahm Anlauf, sprang ab und überquerte die Latte. Ich hatte es geschafft! Das ganze Rund brüllte vor Freude und die Fotografen stürmten auf mich zu. Wenig später lag ich vor lauter Emotionen in den Armen von Renate Gärtner und Ellen Mundinger. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Es war pure Freude. Es war wunderschön."

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