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Olympic Moments 2021: Geteiltes Gold = mitreißende Freude

Zahlreiche internationale Leichtathletik-Asse haben bei den Olympischen Spielen in Tokio (Japan) für Gänsehautmomente gesorgt. Wir blicken zurück auf herausragende Leistungen, erzählen außergewöhnliche Geschichten und stellen beeindruckende Persönlichkeiten vor. Heute: Der geteilte Olympiasieg im Hochsprung und warum er nur an Mutaz Essa Barshim und Gianmarco Tamberi gehen konnte.
Silke Bernhart

„Can we not have two golds?“ – „It’s possible. If you decide…” – “History, my friend!”

Dieses Gespräch nach dem Hochsprung-Wettbewerb der Olympischen Spiele von Tokio war ebenso ein Moment für die Geschichtsbücher wie die Entscheidung der beiden Protagonisten. Gianmarco Tamberi (Italien) war Mutaz Essa Barshim (Katar) schon vorher um den Hals gefallen. Nachdem der Kampfrichter signalisiert hatte, dass beide Athleten sich die Goldmedaille teilen können, genügte ein kurzer Blick zum jeweils anderen. „Lass uns Geschichte schreiben!“

Dann war kein Halten mehr. Der Italiener sprang dem Katarer in die Arme und rollte schluchzend wie ein Kind auf dem Boden des Olympiastadions hin und her. Der Katarer fiel weinend seinen Betreuern in die Arme (zum Eurosport-Video). Wohin auch immer die Kamera schwenkte, wohin auch immer man zu diesem Zeitpunkt im Stadion blickte: Es flossen Tränen. Ganz sicher auch zuhause vor den Bildschirmen. Denn es war ein magischer Moment, den so wohl nur der Sport hervorbringen kann. Ein Moment, in dem zwei Ausnahme-Athleten, zwei Sympathieträger, zwei Freunde mit ähnlicher Leidensgeschichte gemeinsam den größten Erfolg ihrer Karriere feierten.

Wer, wenn nicht sie?

Vorausgegangen war ein Hochsprung-Wettbewerb auf Top-Niveau, in dem sich bis einschließlich 2,37 Meter weder Tamberi noch Barshim einen einzigen Fehlversuch geleistet hatten – bis sie beide an 2,39 Metern scheiterten. Als Bronzemedaillen-Gewinner stand da schon Maksim Nedasekau (Belarus) fest, der auf dem Weg zu 2,37 Metern zwei Mal die Latte gerissen hatte. Und ebenso stand fest, dass es einen Hochsprung-Olympiasieger geben würde, der es sich als Krönung einer großen Karriere wahrlich verdient hatte.

Mutaz Essa Barshim. 30. Zweimaliger Weltmeister. Mit einem einzigartigen Sprunggefühl ausgestattet. Sein Motto: „What gravity?“ – in Anlehnung an seine scheinbar mühelosen Flüge über die Latte, bei denen die Gesetze der Schwerkraft nicht zu gelten scheinen. Olympia-Dritter 2012 in London. Und Olympia-Zweiter 2016 in Rio. Mit einer Bestleistung von 2,43 Metern der zweitbeste Hochspringer der Geschichte.

Gianmarco Tamberi. 29. Einmal Hallen-Weltmeister. Zweimal Hallen-Europameister. Immer Sieger der Herzen. Denn so wie der emotionale, extrovertierte Italiener kann kaum jemand das Publikum für sich begeistern. Ob als „Half Beard“ mit halbseitiger Rasur oder wie zuletzt in der Hallensaison mit blond gefärbten Haaren und dem Look des Fantasy-Helden Legolas: „Gimbo“ verspricht mitreißende Show und große Leidenschaft. Bis in luftige 2,39 Meter brachte ihn seine Sprungkraft schon. Dann stoppte eine schwere Verletzung die Jagd nach der 2,40 Meter-Marke – und wurde zugleich der Auslöser für eine tiefe Freundschaft mit Mutaz Essa Barshim.

Leidensweg schweißt zusammen

Es passierte 2016 beim Diamond League Meeting in Monaco. Tamberi hatte gerade den italienischen Rekord auf 2,39 Meter geschraubt. Und wollte sich anschließend an 2,41 Metern versuchen. Dabei verletzte er sich so schwer an seinem linken Sprungfuß, dass er aufgrund eines Bänderrisses direkt operiert werden musste. Der Traum von der Olympiamedaille in Rio war für den damals 24-Jährigen, der mit seiner neuen Bestleistung zu dem Zeitpunkt die Nummer zwei der Welt war, ausgeträumt.

Die damalige Nummer eins: Mutaz Essa Barshim. Der Katarer hatte sich nach einem Ermüdungsbruch in der Lendenwirbelsäule im Mai 2012 in London doch noch eine Olympia-Medaille geholt und war nun, vier Jahre später und mit sage und schreibe neun 2,40-Meter-Resultaten auf dem Konto, auf dem Weg zum Olympia-Podium von Rio.

Den Gewinn der Bronzemedaille von London bezeichnete Barshim gegenüber World Athletics noch im Jahr 2017 als seine „größte Herausforderung“. Für Tamberi reichte es 2016 nicht mehr zum Olympia-Start. Erst im Sommer 2017 konnte er zaghaft wieder die ersten Wettkämpfe bestreiten. Und die stellten den Heißsporn auf eine harte Geduldsprobe. Absoluter Tiefpunkt: das Diamond League-Meeting in Paris (Frankreich), bei dem er dreimal an seiner Anfangshöhe von 2,20 Metern scheiterte.

„My friend Mutaz“

Warum ausgerechnet dieser Tiefpunkt den Beginn der besonderen Freundschaft zwischen Barshim und Tamberi markierte, hat Gianmarco Tamberi in dem Artikel „My friend Mutaz“ – „Mein Freund Mutaz“ für das „Spikes“-Magazin von World Athletics niedergeschrieben. Barshim habe am Tag nach dem Meeting an seiner Tür geklopft und wollte mit ihm reden, berichtet Tamberi da. Er habe ihn weggeschickt und wollte niemanden sehen. Doch sein Kontrahent, der den Wettbewerb von Paris mit 2,35 Metern gewonnen hatte, blieb hartnäckig. Schließlich öffnete der Italiener die Tür.

Auch damals flossen Tränen, noch waren es keine des geteilten Glücks. „Versuche nicht es zu erzwingen. Du hattest eine schwere Verletzung. Du musst dir jetzt Zeit lassen. Erwarte nicht zu viel von dir selbst. Warte einfach ab, was passiert“, habe Mutaz Essa Barshim ihm gesagt, erinnert sich Tamberi. Die wichtigste Lektion aber sei gewesen zu erkennen, dass er diesen Weg für sich selbst beschreiten muss – und nicht für alle jene, die ihm in der Verletzungszeit zur Seite gestanden hatten und denen er sich zu diesem Zeitpunkt verpflichtet fühlte.

Ganz heimlich organisierte Gianmarco Tamberi anschließend seinen nächsten Wettkampf – von dem niemand etwas wusste mit Ausnahme des Meeting-Direktors und Barshim. Er stellte sein Telefon aus, buchte seine Flüge um und startete zwei Tage später in Székesfehérvár (Ungarn). Dort flog er über 2,28 Meter. „Irgendetwas in mir veränderte sich. […] Ich war wieder ein Hochspringer.“

Gipsschiene als Symbol: niemals aufgeben

Vier weitere Jahre sollte es dauern, bis die Freundschaft im geteilten Olympia-Gold mündete. Bis dahin gab es für beide Athleten weitere Hürden zu überwinden. Besonders für Mutaz Essa Barshim, den im Jahr 2018 ebenfalls eine Bänderverletzung des Sprungfußes ereilte – ausgerechnet beim besagten Meeting in Székesfehérvár und dem Versuch an der Weltrekord-Höhe von 2,46 Meter. Schon 2019 wurde für den damals 28-Jährigen zu einem emotionalen Triumphzug, mit dem WM-Gold vor Heimpublikum in Doha. Was dem Ausnahme-Springer weiterhin fehlte, war der Olympiasieg.

So stand vielleicht der Glücksbringer, den „Gimbo“ Tamberi mit zu den Olympischen Spielen nach Tokio gebracht hatte, sinnbildlich für den Leidensweg und das Durchhaltevermögen beider Hochspringer: Es war die Gipsschiene von seiner Knöchelverletzung, beschriftet mit dem großen Ziel „Road to Tokyo 2020“ – und mit dem Rotstift korrigiert auf 2021. Diese Schiene lag in der 400-Meter-Startkurve des Olympiastadions, als die Hochspringer im Olympia-Finale Anlauf nahmen.

Eine Geschichte für die Geschichtsbücher

Wie sagt man so schön: „The rest is history.“ In der Corona-bedingt fast schon intimen Atmosphäre des Olympiastadions, vor den Augen der engsten Wegbegleiter, nach vertrauensvoller jahrelanger Zusammenarbeit mit ihren Coaches – Vater und Trainer Marco Tamberi sowie dem Polen Stanisław Szczyrba, der seit 2010 an der Seite von Barshim ist – jubelten erstmals zwei Hochspringer über den geteilten Olympiasieg. Und das mit einer Freude, die nicht größer hätte sein können, wenn nur einer alleine gewonnen hätte.

Bis tief in die Nacht hinein dauerte anschließend der Medienmarathon, den Mutaz Essa Barshim und Gianmarco Tamberi Seite an Seite absolvierten, um immer wieder ihre Geschichte zu erzählen. Der Italiener jedes Mal wieder aufs Neue so euphorisiert, als würde er sie zum ersten Mal preisgeben. Der Katarer gefasster, in sich ruhend, still lächelnd und mit der einen oder anderen Ergänzung.

Medaillenübergabe unter Freunden

Am nächsten Tag standen die beiden Athleten dann wieder Seite an Seite. Auf dem obersten Treppchen des Olympia-Podiums. Das Corona-Protokoll gab es vor, dass sich die Athleten bei der Siegerehrung selbst die Medaillen von einem Tablett nehmen. Barshim und Tamberi hielten es anders: Die Freunde hängten sich gegenseitig die Goldmedaille um den Hals (zum Eurosport-Video). Und durften dann, ein weiteres Mal mit Tränen in den Augen, für zwei Nationalhymnen besonders lange auf dem Podest verweilen.

„Ich hätte wahrscheinlich niemals die Goldmedaille mit jemand anderem als Mutaz geteilt“, sagte Gianmarco Tamberi auf der gemeinsamen Pressekonferenz (zum YouTube-Video). „Ich weiß, was er geleistet hat, um zurückzukehren. Er weiß, was ich dafür geleistet habe. Man kann sich nicht vorstellen, was eine Goldmedaille, diese Emotionen, für jemanden bedeuten, der sein komplettes Leben dafür gewidmet hat. Diesen Moment mit einem Freund zu teilen, ist umso schöner.“ – „Wir beide haben diese Goldmedaille verdient“, sagte Mutaz Essa Barshim. „Das stand außer Frage. Das war mehr als Sport. Das war eine Botschaft von wahrem Sportsgeist für die nächste Generation."

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