| Internationales

Olympic Moments 2021: Die Ingebrigtsen-Brüder – Wunderkind krönt Erfolgsgeschichte

Zahlreiche internationale Leichtathletik-Asse haben bei den Olympischen Spielen in Tokio (Japan) für Gänsehautmomente gesorgt. Wir blicken zurück auf herausragende Leistungen, erzählen außergewöhnliche Geschichten und stellen beeindruckende Persönlichkeiten vor. Heute: die drei Ingebrigtsen-Brüder aus Norwegen, die seit knapp einem Jahrzehnt die Mittelstrecken auf europäischer Ebene mitbestimmen und deren Jüngster, Jakob, dem Familienerfolg mit Olympia-Gold über 1.500 Meter die Krone aufsetzte.
Svenja Sapper

Es ist der 7. August 2021, der vorletzte Tag der Olympischen Spiele. Ein noch nicht ganz 21-jähriger Norweger steht im Olympiastadion an der Startlinie. Bereit, sein 1.500-Meter-Finale zu bestreiten, bereit, Geschichte zu schreiben. Bereit, das zu vollenden, was neun Jahre zuvor sein Bruder begonnen hat, und die beeindruckende Medaillenausbeute der Familie Ingebrigtsen mit einer globalen Goldmedaille, einem Olympiasieg zu veredeln.

Jakob Ingebrigtsen ist der jüngste der drei Brüder, fast zehn Jahre jünger als sein ältester Bruder Henrik. Er gilt als der Talentierteste in der Familie, ist bereits vor seinem 18. Geburtstag Europameister über 1.500 und 5.000 Meter geworden. Bei den Weltmeisterschaften 2019 in Doha (Katar) hat er an einer Medaille gekratzt: Rang vier über 1.500 und Platz fünf über 5.000 Meter standen zu Buche. Damals hatte er über 5.000 Meter seine Brüder bei sich, weite Strecken des Finales bestritten sie Seite an Seite. In Tokio kann Jakob sich nur auf sich selbst verlassen, denn Henrik ist nicht am Start und für den mittleren Bruder Filip war bereits nach dem Vorlauf Endstation.

Und diesmal braucht er seine Brüder nicht: Gut dreieinhalb Minuten nach dem Startschuss ist die Mission Gold erfüllt. Bereits wenige Meter vor der Ziellinie ballt er die Faust: Zum ersten Mal besiegt Jakob Ingebrigtsen seinen Rivalen aus Kenia, Weltmeister Timothy Cheruiyot. Er löscht in 3:28,32 Minuten seinen eigenen Europarekord über 1.500 Meter aus den Bestenlisten. Ebenso den olympischen Rekord, den Abel Kipsang aus Kenia erst im Halbfinale aufgestellt hat. Er holt Norwegens erste olympische Medaille über 1.500 Meter und krönt sich zum ersten europäischen 1.500-Meter-Sieger, seit der Spanier Fermin Cacho 1992 im heimischen Barcelona triumphierte.

„Das war leicht!“

Der überraschte Blick des frisch gekürten Siegers – er ist kein Ausdruck von Erstaunen über seinen durchaus nicht unerwarteten Erfolg. Er spiegelt vielmehr das wider, was Jakob Ingebrigtsen wenige Sekunden später auf seiner Muttersprache Norwegisch in die Kamera ruft: „Das war leicht!“ Der neue Olympiasieger – verwundert darüber, wie einfach, scheinbar mühelos er sich seinen ersten globalen Titel gesichert hat.

Und auch sein härtester Konkurrent, Silbermedaillengewinner Cheruiyot, zollt trotz der ersten Niederlage gegen den jungen Norweger am Ende dem verdienten Sieger Respekt: Er schenkt seinem fünf Jahre jüngeren Rivalen ein Armband. „Als ich mein Zimmer verlassen habe, sagte ich mir selbst: Wenn mich jemand heute schlägt, bekommt er mein Armband“, erklärt Cheruiyot dem Weltverband World Athletics. „Jakob hat mich besiegt, also hat er es sich verdient.“  

„Ich wusste, was ich hier tat, würde den Rest meines Lebens verändern“, sagte der jüngste Ingebrigtsen-Bruder später in einem Bericht der norwegischen Zeitung Nettavisen. „Als wir zum Endspurt angesetzt haben, wusste ich, dass ich gewinne.“ Der Sieg in Tokio – er ist der wahrgewordene Kindheitstraum. Elf Jahre alt war Jakob, als sein ältester Bruder Henrik bei den Olympischen Spielen in London (Großbritannien) 2012 Rang fünf belegte. In einem Interview mit dem norwegischen Fernsehsender NRK erklärte Jakob damals, er träume von Gold bei den Olympischen Spielen in Tokio. Neun Jahre später ist der Traum Realität. 

Wegbereiter und Vorbilder

Den Weg zum Erfolg haben ihm seine Brüder bereitet. Insgesamt sieben Kinder hat das Ehepaar Gjert und Tone Ingebrigtsen aus Sandnes, sechs Söhne und eine Tochter. Der älteste Bruder ist 33, der jüngste acht Jahre alt. Henrik, mit mittlerweile 30 Jahren der Zweitälteste, war der Erste, der in sportlicher Hinsicht für Aufsehen sorgte: 2012 gewann der Norweger im Nachbarland Finnland, bei den Europameisterschaften in Helsinki, völlig überraschend Gold über 1.500 Meter. 

Neben dem 5.000-Meter-Titel bei den U23-Europameisterschaften im darauffolgenden Jahr sollte es sein einziger internationaler Titel bleiben – doch ein zuverlässiger Medaillensammler wurde er dennoch: Bei den Europameisterschaften 2014, 2016 und 2018 im Freien sowie 2015, 2017 und 2019 in der Halle nahm er stets Edelmetall mit nach Hause. 

Zwei Jahre jünger ist Filip, der dritte der sieben Geschwister. Vier Jahre nach seinem Bruder holte er EM-Gold in Amsterdam (Niederlande) über 1.500 Meter und gewann überdies 2017 in London mit Bronze die bislang einzige WM-Medaille, die Familie Ingebrigtsen bisher erringen konnte. Und auch das einzige WM-Edelmetall eines Europäers über 1.500 Meter, seit der Portugiese Rui Silva 2005 in Helsinki ebenfalls Bronze gewann. Doch Jakob, der fünfte Bruder, hat die Älteren mittlerweile längst überholt.

Die besten Voraussetzungen

Jakob habe den leichtesten Weg der drei Brüder gehabt, wird Vater Gjert, strenger Trainer seiner Söhne, nicht müde zu betonen. Fast zehn beziehungsweise sieben Jahre jünger als Henrik und Filip, begann er erst mit der Leichtathletik, als sein Vater bereits einige Jahre Trainererfahrung aufwies. Dass Väter ihre Sprösslinge trainieren, ist in Norwegen nicht ungewöhnlich: Es gibt dort keine systematische Sportförderung für Kinder, sodass häufig Familienmitglieder als Trainer tätig werden, ohne dafür ausgebildet worden zu sein.

Henrik war es, der eines Tages auf seinen Vater zukam. „Papa, ich will einer der besten Läufer der Welt werden, kannst du mir helfen?“, habe sein Sohn ihn gefragt, erinnert sich Gjert Ingebrigtsen im Spiegel-Interview. Zunächst ist es jedoch nicht die Mittelstreckendistanz, sondern der Skilanglauf, der Henrik fasziniert. Doch die Familie lebt in einer Gegend Norwegens, in der es zu wenig Schnee gibt. So entdeckt er das Laufen für sich, später folgt ihm Filip vom Fußball in die Leichtathletik. Gjert Ingebrigtsen ist Logistiker, mit Sport kennt er sich nicht aus, aber wächst schnell in seine Trainerrolle hinein. „Hier geht es nicht mehr um Spaß“, impft er seinen Söhnen ein, wie er sich Jahre später in einem Artikel des Sportartikelherstellers Nike erinnert, „hier geht es um Ergebnisse“.

Bei Henrik habe er manchmal übertrieben, meint der Vater selbstkritisch. Anfangs bestand das Training nur aus Laufen, Krafttraining oder Physiotherapie fanden nicht statt. Die gesundheitlichen Probleme seines Sohnes seien darauf zurückzuführen, dass er frühere Verletzungen oder Krankheiten nicht ernst genug genommen habe. „Vater hat bei ihm [Jakob] alle Fehler unterlassen, die er bei mir begangen hat“, antwortete der frühere Europameister Henrik Ingebrigtsen auf die Frage, was seinen jüngeren Bruder so gut mache. 

(K)eine Sportfamilie

„Eigentlich sind wir gar keine Sportfamilie“, behauptet Vater Gjert trotz der vielen Erfolge seiner Söhne. „Ich interessiere mich nicht für Sport. Ich habe im Fernsehen keinen Sportkanal abonniert, ich lese keine Sportzeitschriften. Ich mache das alles nur, weil meine Jungs mich darum gebeten haben.“ Zumindest die beiden Älteren, Henrik und Filip, seien nicht einmal besonders talentiert gewesen. „Die Jungs waren als Kinder vielleicht überdurchschnittlich aktiv, aber rein physisch haben sie nicht die allerbesten Voraussetzungen“, sagt der Vater dem Spiegel. „An den Wochenenden waren wir ab und zu in den Bergen wandern – aber das war nur ein bisschen körperliche Aktivität und kein richtiges Training."

Mittlerweile ist aus den Ingebrigtsens jedoch zweifellos eine Familie geworden, die sich ganz und gar dem Sport verschrieben hat. Akribisch, professionell und streng hat Gjert Ingebrigtsen seine Söhne in die Weltspitze geführt. Im Herbst schreibt er die Trainingspläne meist fürs ganze nächste Jahr, lässt sie laminieren, damit niemand sie ändern kann. „Wir machen nichts anderes, als zu laufen. Wir konzentrieren uns auf diese eine Sache“, beschreibt der Coach das Erfolgsgeheimnis der Familie. „Ich glaube, dass das viele Leute nicht verstehen. Sie können sich nicht in uns hineinversetzen.“

Filip sei frühmorgens vor der Schule eine Stunde auf Rollerskates gefahren, Henrik habe bereits im Kindesalter mehrmals am Tag trainiert – mit der Vorgabe des Vaters, seinen Lehrern nicht davon zu berichten, da diese es als zu viel empfinden würden. Auf Jakob, den seine Brüder bereits als Dreijährigen stets im Schlepptau hatten, habe dies großen Eindruck gemacht, erzählt er dem Magazin Scandinavian Traveler: „Schon damals wollten wir die Besten der Welt werden.“

Enger Zusammenhalt zwischen den Brüdern

Bis heute ist der Spagat zwischen dem Vater und dem strengen Trainer eine Herausforderung für das Team. Der Vater zwingt Filip zum Trainieren, anstatt mit seiner Freundin in den Urlaub zu fahren. Er ärgert sich, dass Henrik zu lange telefoniert, Jakob Videospiele mag. Er lässt sie an Weihnachten trainieren und am Tag ihrer Hochzeiten. Es sei durchaus vorgekommen, dass die Brüder ohne den Vater und dessen Pläne zum Training gefahren seien.

„Schwierig wird es, wenn man als Trainer etwas sagen muss, das aus Sicht des Vaters vielleicht unverantwortlich wirkt“, reflektiert Vater Ingebrigtsen seine Doppelrolle. Als ausgleichender Faktor war daher Mutter Tone für ihre Söhne extrem wichtig. „Mama hat mich aufgezogen, während Papa Henrik und Filip auf Rollschuhen durch die Gegend gejagt hat“, sagt Jakob dem norwegischen Fernsehsender TV2. Filip ergänzt: „Wenn wir nur Papa gehabt hätten, wären wir in ein mentales Loch gefallen.“

Auch der Zusammenhalt zwischen den drei Brüdern ist besonders eng. Henrik als Ältester ist für organisatorische Dinge verantwortlich. Er besorgt Mietautos, kümmert sich um die Abrechnungen mit dem norwegischen Verband. Und auch im Wettkampf funktionieren die drei Brüder als Team. Beispielhaft dafür ist eine Szene aus dem EM-Finale 2018 über 5.000 Meter in Berlin. Jakob, bereits mit 1.500-Meter-Gold dekoriert, und Henrik, eigentlich verletzungsgeplagt, vorneweg. Während des Rennens sah der jüngere den älteren Bruder an, klatschte ihn ab und rief ihm zu: „Los geht’s!“ Jakob holte Gold, Henrik Silber – Doppelsieg für Familie Ingebrigtsen, die sich im Ziel überglücklich in die Arme fiel.

Wunderkind

„Diese EM war vielleicht unsere letzte Chance, ihn [Jakob] noch mal einzufangen“, zitiert die Süddeutsche Zeitung Filip Ingebrigtsen im Rückblick auf Berlin 2018. Er sollte recht behalten: Im Corona-Jahr 2020 nimmt Jakob dem vierfachen Langstrecken-Olympiasieger Mo Farah aus Großbritannien den Europarekord über 1.500 Meter ab. Ein Jahr später unterbietet er die kontinentale 5.000-Meter-Bestmarke (12:49,71 min) des Belgiers Mohammed Mourhit, erzielt wenige Wochen vor seiner Geburt, um eine Sekunde. Die Rekorde seiner Brüder hat er ohnehin längst gebrochen, einzig über 3.000 Meter in der Halle liegt Henrik in der Bestenliste noch vor ihm.

Dass Jakob einmal der Schnellste von ihnen sein würde, zeichnete sich bereits früh ab. 50 Prozent der Leistung beruhe auf Talent, sagt Gjert Ingebrigtsen, der Rest lasse sich durch Erziehung und Training kontrollieren. So ist es kein Wunder, dass Jakob, der die Trainingsphilosophie des Vaters mit der Muttermilch aufgesogen hat, bereits als Elfjähriger außergewöhnlich gute Ausdauerwerte aufwies, vergleichbar mit denen von deutlich älteren Athleten.

Gleichzeitig ist sich der jüngste Bruder sicher, dass es seine älteren Brüder sind, die ihn zu dem Wunderkind gemacht haben, als das er mittlerweile gilt. „Ich glaube, dass sie sehr stolz auf mich sind“, sagte er MSN nach seinem Olympiasieg. „Und ich glaube nicht nur, sondern ich weiß, dass sie sich bewusst sind, dass sie ein Teil von mir sind. Ohne sie wäre ich kein Läufer, und erst recht nicht auf diesem Niveau.“

Leichtathleten und Fernsehstars

Das darf auch die norwegische Öffentlichkeit an den Fernsehbildschirmen mitverfolgen: Die Dokumentarserie „Team Ingebrigtsen“ zeigt seit 2016 eindrücklich das Leben und den Trainingsalltag der Familie Ingebrigtsen. Staffel drei wurde in Norwegen gar als beste Dokumentation ausgezeichnet. Die ersten gezeigten Bilder stammen aus dem Jahr 2013, Henrik war damals bereits Europameister, Filip sammelte bei der U23-EM erste internationale Erfahrungen, Jakob war erst zwölf Jahre alt.

Jahre später ist Gjert Ingebrigtsen, der ein Buch mit dem Titel „Wie man einen Weltmeister aufzieht“ veröffentlicht hat, am Ziel: Seine häufig kritisch beäugte Trainingsphilosophie ist mit einem Olympiasieg belohnt worden. „Es ist eine Mischung aus Learning by Doing und Intuition. Wir haben unseren eigenen Plan und machen unser Ding“, erklärt der Vater im Spiegel-Interview. Henriks Plan war es als 18-Jähriger, irgendwann 3:35 Minuten über 1.500 Meter zu laufen. Bei 3:31,46 Minuten steht heute seine Bestleistung. „Wenn du dir nichts zutraust, dann erreichst du auch nichts“, sagt er. Filips Hausrekord beträgt 3:30,01 Minuten. Und Jakob ist bereits beim Europarekord von 3:28,32 Minuten angelangt.

„Ich kenne meine Jungs genau. Und natürlich gehört auch etwas Glück dazu. Sie haben bewiesen, dass sie die Besten in Europa sind. Jetzt wollen wir zeigen, dass wir auch die Besten der Welt sind“, sagt Vater Ingebrigtsen. Seinem Sohn Jakob ist das gelungen. Und vielleicht steht auch dessen Nachfolgerin bereits in den Startlöchern: Denn auch die erst 15 Jahre alte Schwester Ingrid hat bereits erste Erfolge im Mittel- und Langstreckenlauf erzielt.

Teilen
#TrueAthletes – TrueTalk

Hier finden Sie alle Folgen des Podcasts des Deutschen Leichtathletik-Verbandes!

Zum Podcast
Jetzt Downloaden
DM-Tickets 2024