| Interview

Niklas Kaul: "Meine Kraftwerte sind immer noch ein Witz"

Die Bilder seines Jubels über das überraschende WM-Gold 2019 gingen ebenso um die Welt wie die des Olympia-Aus' nach einer Verletzung im Hochsprung 2021. Wie es ihm heute geht? Welche Lehren er daraus gezogen hat? Und warum für ihn 2022 die EM einen höheren Stellenwert hat als die WM? Das hat Zehnkämpfer Niklas Kaul im Interview mit Sports Illustrated verraten, das wir Ihnen auch hier auf leichtathletik.de präsentieren dürfen.
Sports Illustrated / Dirk Adam

Niklas Kaul, bei den Olympischen Spielen in Tokio sind Sie mit dem Rollstuhl aus dem Stadion geschoben worden. Steckt der Schock über die Verletzung noch in Ihrem Kopf?

Niklas Kaul:

Nein, das habe ich komplett abgehakt. In meinem Sport ist man etwas anfällig, denn die Belastung im Zehnkampf ist relativ hoch. Diese Sprunggelenksverletzung sollte nicht passieren, ist sie aber leider. Ich denke, das ist fast jedem Zehnkämpfer schon einmal passiert, dass er einen Wettkampf nicht zu Ende bringen konnte. Aber wenn so etwas bei Olympia passiert, ist das extrem bitter. Es hat eine Weile gedauert, aber jetzt schaue ich wieder nach vorne.

Ihre weiße Socke hatte einen Blutfleck am Knöchel. Hätte man diese Verletzung vor Ihrem Hochsprung über 2,11 Meter verhindern können?

Niklas Kaul:

Diese Verletzung kam total unerwartet. Das war nicht absehbar. Wenn so etwas absehbar gewesen wäre, beendet man den Hochsprung-Wettkampf. Die nächste Höhe wäre sicherlich schön gewesen. Aber es bringt nichts, wenn man den Zehnkampf nicht ins Ziel bringt. Meine Sprunggelenksverletzung war eine Verkettung von unglücklichen Zufällen. Ich war bei meinem Absprung zu dicht an der Latte. Ich habe meinen Fuß deshalb nicht richtig aufgesetzt. Hinzu kam, dass ich mit meinem Fuß über den Tartanbelag gerutscht bin.

Zum Glück haben Sie sich keine Bänder oder Sehnen gerissen. Ab welchem Zeitpunkt war Ihr Fuß wieder voll belastbar?

Niklas Kaul:

Anfang November habe ich zum ersten Mal wieder Hochsprung trainiert. Zu Beginn habe ich mit leichten Sprüngen über kleine Höhen begonnen und habe versucht, mich langsam wieder an die Belastung zu gewöhnen. Zu diesem Zeitpunkt war die Verletzung kein Thema mehr.

Der Fuß ist wieder in Ordnung. Sind Sie auch mental wieder bei 100 Prozent oder machen Sie sich Gedanken, ob so etwas nochmal passieren kann?

Niklas Kaul:

Natürlich hoffe ich, dass mir so etwas nicht noch einmal passiert. Aber in dem Moment, wo ich springe, denke ich nicht daran. Ich versuche meine Technik umzustellen, dass ich deutlich weiter von der Anlage abspringe. Dadurch fühle ich mich sicherer. Ich denke nicht, dass mir das nochmal passiert.

Welche Dinge laufen im Training gut und welche nicht?

Niklas Kaul:

Die langen Läufe sind schon sehr gut. Die haben beim Trainingslager zuletzt in Südafrika gepasst. Beim Diskuswerfen fehlen noch ein paar Feinheiten, aber insgesamt ist das Gefühl gut. Die anderen Sachen werde ich sehen, wenn es langsam wieder raus ins Stadion geht. Dann arbeite ich an den technischen Feinheiten.

Dieses Jahr findet die WM in den USA und die EM in München statt. Wie sieht Ihre Wettkampfplanung aus?

Niklas Kaul:

Ich werde meinen ersten Zehnkampf am 7./8. Mai in Ratingen absolvieren. Danach möchte ich bei der WM und der EM starten. Von Ratingen bis zur WM habe ich eine lange Vorbereitungszeit eingeplant, um dreieinhalb Wochen nach der WM bei der EM um eine Medaille zu kämpfen. Die Idee ist, dass ich alles, was ich im Training machen muss, vor der WM abgehakt habe.

Wie lange brauchen Sie, um sich nach einem Zehnkampf komplett zu erholen?

Niklas Kaul:

Das kommt immer darauf an, wie die Temperaturen bei einem Zehnkampf sind. Bei der EM 2018 in Berlin war es super heiß, da habe ich etwas länger gebraucht. Aber normalerweise habe ich nach zwei bis zweieinhalb Wochen das Gefühl, dass alles wieder bei 100 Prozent ist.

Welcher Start ist wichtiger – die WM oder EM?

Niklas Kaul:

Wenn man die Veranstaltungsorte einmal herausnimmt, dann ist die WM der höherwertige Wettkampf. Aber in München findet eine Heim-EM statt, deshalb ist dieser Wettkampf schon der Höhepunkt der Saison. Deswegen ist für mich München das ganz große Ziel. Bei der WM will ich aber auch einen super Wettkampf abliefern.

2019 sind Sie im Alter von 21 Jahren jüngster Zehnkampf-Weltmeister der Geschichte geworden. Wie wichtig ist dieser Titel für Sie?

Niklas Kaul:

Dieser Titel ist natürlich besonders schön gewesen. Wenn mich jemand als Kind gefragt hätte, was meine Ziele im Zehnkampf sind, dann hätte ich gesagt, dass ich irgendwann einmal vielleicht mit viel Glück einen großen Titel bei den Erwachsenen gewinnen möchte. Weil ich diesen Titel habe, kann ich viel entspannter an meine nächsten Ziele herangehen. Aber bis diese Einsicht kam, hat es eine Weile gedauert. Im vergangenen Jahr hat sich das alles noch etwas anders angefühlt, weil es für mich schwieriger war. Jeder hatte die Erwartung, dass ich als amtierender Weltmeister bei Olympia eine Medaille hole. Diesen Druck gibt es nicht mehr. Ich weiß jetzt, dass ich das alles für mich mache. Aus diesem Grund ist mir die Erwartungshaltung mittlerweile egal.

Hat die Verletzung Ihren Reifeprozess beschleunigt?

Niklas Kaul:

Eine Verletzung ist nie etwas Gutes. Aber wenn meine Verletzung etwas Positives hatte, dann dass ich die Einsicht bekommen habe, dass es nicht immer perfekt laufen kann. Wenn ich mir die Jahre davor anschaue, gab es kein Jahr, das nicht super für mich gelaufen wäre. Aber Olympia ohne Verletzung wäre schöner gewesen, egal welchen Platz ich belegt hätte.

Die nächsten Olympischen Sommerspiele finden 2024 in Paris statt. Mit 26 Jahren hätten Sie dann das perfekte Zehnkampf-Alter.

Niklas Kaul:

Das ist mein großes Ziel, dass ich mir in zwei Jahren den Traum von einer olympischen Medaille erfüllen kann. 2024 möchte ich in absoluter Topverfassung sein. Dann entscheidet natürlich die Tagesform und ein bisschen das Glück, wer am Ende die drei Medaillen gewinnt.

Gibt es im Zehnkampf eine Disziplin, in der Sie sich verbessern müssen?

Niklas Kaul:

Im Sprintbereich kann ich mich auf jeden Fall noch verbessern. Die Frage ist, wie viel Potenzial ich in dieser Disziplin habe. Ich weiß aber, dass ich bei der Sprinttechnik noch viel machen kann. Hinzu kommt, dass ich im athletischen Bereich noch Luft nach oben habe. Wenn ich mir meine aktuellen Kraftwerte anschaue, sind die immer noch ein Witz. Das ist leider so, aber ich wollte in der Jugend zuerst möglichst gut in den technischen Disziplinen sein. Die Technik mit 28, 29 Jahren zu lernen, ist schwierig. Aber die Kraft kann man jetzt trainieren.

Seit mehr als zwei Jahren schränkt Covid-19 den Sport überall ein. Wie sind Sie bis jetzt durch diese Zeit gekommen?

Niklas Kaul:

Zu Beginn fand ich es schwierig. Im ersten Jahr in der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele standen wir teilweise nur zu viert in der Halle. Das hat sich schon ein bisschen einsam angefühlt. Aber wir konnten immer trainieren. Aus sportlicher Sicht hatte ich durch Corona keine größeren Einschränkungen, außer dass wir vor Tokio kein Trainingslager hatten. Schwieriger fand ich, dass man neben dem Sport nichts anderes hatte. Es gab keine Abwechslung. Ich konnte keine Freunde treffen und zum Essen gehen. Man konnte am Wochenende nicht in eine Bar oder ins Kino gehen. Da hat mir viel Lebensqualität gefehlt.

Heike Drechsler hat kritisiert, dass deutsche Athleten ihre Teilnahme für die Hallen-WM abgesagt haben, die aus sportlicher Sicht eine große Enttäuschung war. Zu Recht?

Niklas Kaul:

Man muss wissen, dass wir in Deutschland viele starke Werfer haben, die im Sommer die Medaillen holen und in der Halle nicht dabei sind. Die sind bei der Hallen-WM schon mal raus. Deshalb sieht es natürlich etwas anders aus. Wenn ich an Malaika Mihambo denke, dann hatte sie mit Sicherheit einen anstrengenden Herbst und einen anstrengenden Winter mit vielen Auftritten und Terminen. Ihre Ziele sind die Leichtathletik-WM und die EM. Ich kann verstehen, dass ihr diese Teilnahmen wichtiger sind – und so ging es anderen Athleten auch. Wenn das jetzt eine Heim-WM gewesen wäre, hätte die Sache sicherlich anders ausgehen. Aber so kann ich es nachvollziehen.

Neben Ihrem Sport absolvieren Sie ein Lehramtsstudium. Wollen Sie nach Ihrer Karriere Lehrer werden?

Niklas Kaul:

Ich studiere noch und bin im zehnten Semester. Ich denke, dass ich kurz nach den Olympischen Spielen 2024 mit meinem Studium fertig werde. Wenn ich meine Karriere beendet habe, möchte ich gerne als Lehrer für Physik und Sport arbeiten. Ich werde mein Referendariat erst nach dem Sport machen, denn ich habe gesehen, dass man während der Karriere als Leistungssportler nicht die nötige Zeit dafür hat.

Quelle: Sports Illustrated

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