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Linda Stahl beendet hochdekorierte und geerdete Karriere

Es war ihr allerletzter Wurf. Im Olympiastadion von Rio de Janeiro (Brasilien) endete am 18. August die Karriere der Speerwerferin Linda Stahl. Dass der Speer an diesem Tag nicht mehr über 60 Meter weit fliegen wollte – das tut dem Glanz dieser Karriere keinen Abbruch. Mit Linda Stahl verliert die deutsche Leichtathletik nicht nur eine hervorragende und hochdekorierte Speerwerferin, sondern auch einen wunderbar geerdeten und dadurch so angenehmen Menschen.
Alexandra Dersch

Texte über das Ende einer großen Karriere zu schreiben, das ist eigentlich ein Selbstläufer. Da schreibt man über Höhen und Tiefen. Über Medaillen und Verletzungen, über mental schwierige Episoden und Sternstunden. Doch unterm Strich sind es nicht die Medaillen, die in der Erinnerung des Publikums hängen bleiben, sondern der Mensch hinter dem Edelmetall. 

Die Leverkusenerin Linda Stahl war eine dieser Athletinnen, die dem Publikum trotz ihrer nüchternen Art genügend Anknüpfungspunkte gab. Eben weil sie war, wie sie ist. Kein Lautsprecher. Kein aufgesetztes Gute-Laune-Mädchen für die Kameras. Kein Selbstvermarktungs-Zwang. Linda Stahl war einfach Linda Stahl. Unaufgeregt. Bodenständig. Eine der Wenigen, die schon echt waren, bevor echt zum Modewort wurde. „Ich bin Ostwestfälin. Bei uns packt man seine Gefühle nicht so ins Schaufenster, sagt aber immer, was man denkt.“

Sicher! Ein extrovertiertes Auftreten hätte ihr bestimmt mehr Aufmerksamkeit über ihre Sportart hinaus gebracht. Aber es wäre ihr wohl wie Verrat an sich selbst vorgekommen. Wie ein Karnevalskostüm, das ein entfernter Bekannter für einen ausgesucht hat. „Ich bin kein Freund davon, eine Rolle zu spielen, nur weil das vielleicht besser ankommt. Das bin nicht ich.“

Fünf internationale Medaillen

In dieses Muster passten auch die Abschiedsworte der heute 30-Jährigen, mit denen sie sich auf <link https: www.facebook.com fanpagelindastahl _blank>Facebook von ihrer Fangemeinde verabschiedete. „Auf Wiedersehen“ stand da bloß über ein paar weiteren Sätzen, in denen sie ihren Olympia-Wettkampf analysierte. So nüchtern, so knapp, dass nicht allen ihrer Sympathisanten klar war, dass das nun tatsächlich ihr gänzlicher Abschied vom Leistungssport sein sollte.

Ein Abschied, der ihr nach zwölf Jahren Leistungssport beim TSV Bayer 04 Leverkusen mit ihrem Trainer Helge Zöllkau („Es gibt keinen besseren Trainer“) und fünf internationalen Medaillen („Die Schönste ist die Bronzemedaille von Olympia 2012“) doch etwas Wehmut abverlangt. „Ich werde die Flexibilität vermissen, die vielen Reisen, die Trainingslager in der Sonne.“ Der ihr aber auch leicht fällt. „Ich weiß, was kommt, falle in kein Loch.“

Verfechterin der dualen Karriere

Denn Linda Stahl war nie nur Speerwerferin. Sie hatte immer ein Leben neben dem Sport. Neben dem Speerwurf, wo sie spätestens seit der WM 2009 (Platz 6) in Berlin zur absoluten Weltspitze gehörte und kein Jahr ohne ihren Start bei dem jeweiligen internationalen Höhepunkt verging, trieb sie ihre Karriere als Ärztin voran. Seit 2014 arbeitet sie im Klinikum Leverkusen, ab Oktober wird sie dort in Vollzeit in der Urologie zu finden sein. „Und nebenbei endlich meine Doktorarbeit abschließen.“

Linda Stahl ist das perfekte Beispiel, dass duale Karriere wirklich funktionieren kann. Aber auch das lebende Beispiel, wie kraftraubend diese doppelte Belastung ist. „Während andere sich nach dem Training ausgeruht haben, stand ich schon wieder im OP.“ Aber auch eine Belastung, die sie immer wieder auf sich nehmen würde. „Ohne den Job hätte ich jetzt noch nicht aufgehört und hätte dann womöglich nie den richtigen Zeitpunkt gefunden.“ Auf Linda Stahl warten jetzt neue Aufgaben, neue Ziele. „Das ist gut so, sonst wäre ich jetzt wohl im freien Fall.“ Nüchtern. Kontrolliert. Und so wunderbar reflektierend.

Nie schneller bewegt als beim EM-Jubel in Amsterdam

Der einzige Moment in ihrer Karriere, in dem es schier aus ihr heraus zu brechen schien, war ihr letzter Wurf bei der EM in Amsterdam (Niederlande). Sie wusste, es hätte der letzter Wurf in ihrem Leben sein können. Der Blick fokussiert, die Muskulatur aktiviert, und dann flog der Speer auf 65,25 Meter. Saisonbestleistung. Das Ticket für Rio. Silber bei der EM. Und plötzlich sah man die sonst so unaufgeregte Linda Stahl im Rumpelstilzchen-Stil über die Bahn hüpfen. „Die ganze Saison war so beladen von der Angst, nicht noch einmal zu den Olympischen Spielen fahren zu können, der Druck war so groß. Das alles fiel in dem Moment ab. Wie ich da rumgesprungen bin, das ist mir heute fast peinlich.“

Hammerwerferin Kathrin Klaas (LG Eintracht Frankfurt), Linda Stahls langjährige Zimmerkollegin bei internationalen Meisterschaften, sagte nach dem EM-Wettkampf zu ihr, dass sie sich ja noch nie so schnell bewegt habe. Und auch Linda Stahl ist von sich selbst überrascht. „So habe ich mich im Stadion ja noch nie aufgeführt“, wird sie kurz nach dem Wettkampf sagen. Heute wissen wir, so wird sie sich auch nie mehr im Stadion aufführen. Schade. Für die Leichtathletik.

Verletzung bei Olympia verschwiegen

Aber die Welt außerhalb der Leichtathletik darf sich dafür auf ein Mehr an Linda Stahl freuen. Eine Linda Stahl, die ab sofort mehr Zeit für ihr Privatleben hat. Mehr Zeit für sich. Und auch für ihren dann einzigen Job. „Das Leben ohne den Erfolgsdruck, ohne diese Höhen und Tiefen im Training, das werde ich jetzt erstmal genießen.“ 

EM-Gold, EM-Silber, Olympia- und doppeltes EM-Bronze – farblich ist der Medaillensatz komplett. Dass sie sich aber ausgerechnet in ihrem letzten Wettbewerb verletzte – auch das passt zu ihrer Karriere. Zwei Stunden vor der Qualifikation in Rio zog es nach dem Aufstehen aus dem Bett im Rücken. Die medizinische Abteilung des DLV gab alles. „Mein Rücken war grün und blau.“ Doch bis zum Finale wurde es eher schlimmer statt besser. Der Verdacht eines Bandscheiben-Vorfalls steht akut im Raum.

Mit Karriere im Reinen

Platz elf bei Olympia unter diesen Umständen? Nur mit einem wahren Kämpferherz möglich. „Ich habe meinen Frieden damit gemacht, habe alles gegeben, mir nichts vorzuwerfen.“ Es schien, als wolle ihr Körper ihr in Rio nach all den Jahre den Abschied von der Leichtathletik-Bühne noch ein bisschen leichter machen. Als wolle er ihr zurufen: „Linda, komm, wir haben alles gegeben, so viel erreicht, es ist Zeit.“ Dass sie diese Verletzung in Rio gar nicht erst kommunizierte, auch das passt zu ihrem Charakter. „Rumheulen war nie mein Ding.“

Stattdessen: Abhaken. Nach vorne blicken. „Ich bin mit mir und meiner Karriere im Reinen. Ich war dank meines Trainers zum Saisonhöhepunkt immer topfit, und auch in Rio habe ich alles gegeben und hatte mehr drauf, als ich zeigen konnte. Aber mit dem Rücken ging es nicht. Das weiß ich für mich und deshalb ist alles gut so, wie es ist.“

Zum Ende ihrer Karriere stand sie noch einmal in einem olympischen Finale. Eine Karriere, die sicher nicht perfekt war. Die sicher den ein oder anderen goldenen Moment mehr verdient gehabt hatte. Deren Glanz aber dennoch hell strahlt.

<link https: www.leichtathletik.de nationalmannschaft athletenportraet athlet detail linda-stahl _blank>Linda Stahl im Porträt

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