| Kugelstoßen

Technik im Fokus: Der Trend zum Drehstoß

Wer das Kugelstoß-Finale der Weltmeisterschaften in London verfolgt hat, dem entging eines nicht: Fast alle Männer drehten sich vor dem Abstoß der Kugel im Ring. Das gleiche Bild bei den Nachwuchs-Stoßern im U20-EM-Finale von Grosseto. Dieser Technik-Trend ist die Zukunft und soll auch im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) stärker gefördert werden. Erste Projekte wurden 2017 schon angeschoben.
Pamela Ruprecht

Die Marschrichtung ist klar: Die Zukunft im Kugelstoßen gehört den Drehstoßern. Die weltbesten, meist sehr kräftig gebauten Athleten, beschleunigen die Kugel mittels einer Drehung im Ring und erzielen reihenweise starke Weiten. Die 22-Meter-Marke fällt bei den Männern mit einer Regelmäßigkeit wie selten zuvor. Was früher nur schwer mit dieser Technik gelang, ist jetzt möglich: Konstanz.

Dass auch mit dem klassischen Angleiten Top-Resultate möglich sind, bewies in den zurückliegenden Jahren David Storl (SC DHfK Leipzig; PB: 22,20 m). Der Doppel-Weltmeister ist – genauso wie die angleitende Peking-Weltmeisterin Christina Schwanitz (LV 90 Erzgebirge) – das große Vorbild seiner Disziplin in Deutschland. Nach dem verpassten WM-Endkampf in London musste der siebenmalige Deutsche Meister nach drei Podestplätzen in Folge diesmal jedoch den Drehstoßern die Entscheidung um die Medaillen überlassen.

Nur drei Angleiter im U20-EM-Finale

Dass mit beiden Techniken – Angleiten und Drehstoß – Weltklasse-Weiten möglich sind, zeigt der Vergleich der maximalen Bestleistungen: Weltrekordler Randy Barnes (USA) – später des Dopings überführt – erzielte 1990 als Drehstoßer 23,12 Meter. Der Deutsche Rekordhalter Ulf Timmermann (23,06 m) als Angleiter 1988 nur sechs Zentimeter weniger. Und doch entscheiden sich immer mehr Athleten für die Drehung, die Leistungskurve im Männer-Bereich steigt auch deshalb seit 1997 kontinuierlich an.

Blickt man auf die jüngeren Altersklassen, zeigt sich: Der Nachwuchs eifert dem Trend schon nach. Bei der U23-EM in Bydgoszcz (Polen) waren die Angleiter ebenso rar wie im U20-EM-Finale von Grosseto (Italien). Dort waren nur drei der zwölf Teilnehmer keine Drehstoßer und zwei davon kamen aus Deutschland.

Doch auch hierzulande soll vermehrt in die Technik investiert werden, 2017 initiierte Bundestrainer Sven Lang erste Projekte und Workshops unter den Trainern. „Wir wollen das Drehstoßen im U16- und U18-Bereich intensiver fördern“, sagt Lang. Den Athleten kann die Technik dabei natürlich nicht auferlegt werden. “Das müssen sie für sich selbst entscheiden", meint Bundesnachwuchstrainer Christian Sperling.

Beide Technik-Varianten sinnvoll

Die U18-Vize-Europameisterin und U18-WM-Vierte Jule Steuer (SC Magdeburg) steigt gerade vom Angleiten auf die Drehstoß-Technik um. „Wir sind der Meinung, dass das die Zukunft ist“, sagt die 17-Jährige über die Zusammenarbeit mit ihrem neuen Trainer Philipp van Dijck. „Die rundere Bewegung ist für meine Knie schonender.“ Aber auch anspruchsvoll zu erlernen. Die Technik muss sauber ausgeführt werden, damit die Vier-Kilo-Kugel weit fliegt. Erste Wettkampf-Erfahrung nach der Umstellung will sie in der Hallensaison sammeln.

Bei U18-Weltmeisterin Selina Dantzler (LG Stadtwerke München), die mittels Angleiten in Nairobi (Kenia) Gold holte, sieht der Bundesnachwuchstrainer der Kugelstoßerinnen hingegen keinen Grund die Technik umzustellen – auch wenn das Drehen bei den Frauen auf internationalem Parkett immer beliebter wird: "Selina hat ein schnelles Fußgelenk und gute Hebel-Verhältnisse, das sind gute Voraussetzungen fürs Angleiten", sagt Sperling. Es bleibt eine sinnvolle Alternative.

Bereits eingefleischter Drehstoßer ist der aktuelle U18-Weltmeister: Timo Northoff (TuS Jöllenbeck) wuchtete die Kugel per Drehung im WM-Finale von Nairobi auf seine neue Bestweite von 20,77 Metern. Sogar einen deutschen Doppel-Sieg – von zwei Angleitern (!) – gab es bei der U18-WM 2013: Patrick Müller (SC Neubrandenburg; 22,02 m) und Henning Prüfer (SC Potsdam; 21,94 m; jetzt Diskuswerfer) erwischten mit Leistungen um die 22-Meter-Marke damals einen außergwöhnlichen Tag.

Patrick Müller steigt um

Vier Jahre später wagt Patrick Müller (SC Neubrandenburg) als U23-Athlet bei Bundestrainer Sven Lang nun die technische Umstellung. Was mit „just for fun“ anfing, ist mittlerweile festes Programm. „Meine Leistung mit der Angleit-Technik stagniert seit drei Jahren und es gibt Fehler, die ich so nicht rausbekomme“, erklärt der zweimalige Deutsche U23-Meister. Seit zweieinhalb Monaten betreibt er das Drehstoßen ernsthaft, das Gespann ist hoch motiviert. „Das macht richtig Spaß, diesen neuen Weg zu gehen.“

Der 21-Jährige profitiert im Erlernen der Bewegung stark von seinem früheren Diskus-Training in Neubrandenburg bei Thorsten Schmidt – dem vormaligen Trainer von Robert Harting (SCC Berlin). Diese Disziplin wird ebenfalls mit einer Drehung eingeleitet. Die viel abrupter ausgeführte Drehung mit der Kugel will sich Patrick Müller selbst erarbeiten, es muss zu seinem Körpergefühl passen. Inspiration gibt es von der Drehstoß-Hochburg USA: Die größte technische Ähnlichkeit besteht mit Ryan Whiting, daran will man sich orientieren.

Wissensschatz von Rolf Oesterreich

„Der Drehstoß bietet mehr Möglichkeiten, sowohl für große als auch kleine Athleten“, sagt Kugelstoß-Coach Peter Salzer. Für Große ist der Ring oftmals zu klein, so dass mittels der Drehung eine höhere Horizontalgeschwindigkeit erzeugt werden kann. Für Kleinere sind die bessere Verwringung und Vorspannung von Vorteil. Der Trainer des Hallen-WM-Achten Tobias Dahm (VfL Sindelfingen), von U20-Weltmeisterin Alina Kenzel (VfL Waiblingen; beide Angleiter) und der Hallen-WM-Siebten Lena Urbaniak (LG Filstal; Dreherin) betreute seinen ersten Drehstoßer in den 80er Jahren und hat seither viel Erfahrung mit der Materie gesammelt.

„90 Prozent von dem, was ich über Drehstoß weiß, weiß ich von Rolf Oesterreich“, meint der Coach über den früheren Drehstoßer aus Sachsen, dessen Weltrekord (22,11 m) 1976 von der DDR aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen nicht anerkannt wurde. Ein einheitliches Technik-Leitbild wie beim Angleiten gibt es allerdings nicht. Jeder dreht anders. Dennoch macht Peter Salzer dahingehend zwei Favoriten aus: Der Olympia-Zweite Joe Kovacs (USA) und vor allem Weltmeister Tom Walsh (Neuseeland).

Know-how aus dem Ausland

Während das deutsche Know-how im Angleiten absolut ausgereift ist, gibt es in Sachen Andrehen noch Nachholbedarf, etwa was die systematische Trainingsmethodik betrifft. Eingeladen zur DLV-Wurfkonferenz (18./19. November) in Kienbaum ist deshalb Don Babbitt von der University of Georgia. Der Wurftrainer aus den USA referiert über die Drehstoß-Technik aus amerikanischer Sicht und gibt Tipps für die Praxis.

Im DLV sollen trotz des Trends beide Stoß-Techniken parallel gefördert werden: Denn nicht jeder Kugelstoßer ist der Typ fürs Drehen. Für einen Umstieg sei es generell nie zu spät, meint Christian Sperling: "Wenn man gute motorische und koordinative Fähigkeiten sowie eine gute Auffassungsgabe mitbringt, kann man jederzeit die Technik umstellen." Auch die Hallen-EM-Fünfte Claudine Vita (SC Neubrandenburg) oder der U23-EM-Fünfte von 2015 Dennis Lewke (SC Magdeburg) experimentieren aktuell.

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